Aus den Feuilletons

Wenn die Seele besser durchhält als der Körper

04:18 Minuten
Ein älterer Mann sitzt und stützt sich mit einer Hand auf einen Stock ab.
Krankheit und Gebrechlichkeit gehört zum Leben einfach dazu, erinnert uns die Soziologin Annelie Keil in der "Taz". © Le Pictorium Agency via ZUMA/Alejo Manuel Avila
Von Klaus Pokatzky · 30.05.2021
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"Krankheit gehört zum Leben dazu", meint die Soziologin Annelie Keil im Interview mit der "Taz", genaus wie andere Schicksalschläge. Der Mensch habe aber "einen starken Willen zu leben" und könne deswegen seine Verletzlichkeit und Endlichkeit aushalten.
"Ein befreiendes Gefühl, eine legale Droge", verheißt uns der Berliner TAGESSPIEGEL und meint damit allerdings nicht das gepflegte Bierchen samt Zigarette in unserer Stammkneipe nach Corona.
"Einer anderen Welt angehören als der fest gefügten unten am Boden, danach sehnen sich Menschen", entführt uns Rüdiger Schaper nach ganz oben, über die Wolken, wo die Freiheit heute auch nicht mehr so grenzenlos ist: Rauchen ist dort tabu. Doch für den echten Flugzeug-Fan gilt:
"Das Gefühl, den Sitzgurt zu schließen, den angenehmen Druck zu spüren, wenn die Maschine beschleunigt und den Boden verlässt, das hat etwas Existenzielles."
Das dient aber nicht unbedingt unserer Umwelt, weiß auch Rüdiger Schaper: "Wenn es möglich ist, aus diesem oder jenem guten Grund auf Fleisch, Zigaretten und Alkohol zu verzichten oder den Genuss einzuschränken, dann lässt sich auch an Flugabstinenz denken. Der Suchtfaktor darf dabei nicht unterschätzt werden."

Wo bleibt die Vernunft?

Vernunft wäre da nötig. "Dieser Weltgemeinschaft steht nur ein bedingtes Maß an Vernunft zur Verfügung", dämpft die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG unsere Hoffnungen. "Die große Vernunft, die wir alle ersehnten, kam nicht", zieht der Schriftsteller und Musiker Dmitrij Kapitelman seine Corona-Bilanz.
"Den Mitmenschen, die sich geweigert haben, eine Maske zu tragen und neben ihrer Atemluft noch allerhand anderen mörderischen Unfug verbreiteten, müssen wir weiter täglich in die Augen blicken."
Das schreit nach Aufklärung. "Ohne die Aufklärung würde die Vernunft fehlen", steht in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG, "und damit die Begründung für alle demokratischen Werte – sei es Respekt, Solidarität oder Wahrheit und Gerechtigkeit selbst", erinnert die Philosophin Susan Neiman an geistige Aufbruchszeiten vor mehr als drei Jahrhunderten, die bei manchem heute noch nicht angekommen sind.

Krankheit gehört zum Leben dazu

"Krankheit", lesen wir in der Tageszeitung TAZ, "gehört wie Verlassenwerden, wie die Gefahr, arbeitslos zu werden, wie die Gefahr, in einem Land zu sein, das wir nicht ausgesucht haben und fliehen zu müssen, zum Leben dazu."
Das meint mit 82 Jahren Annelie Keil, Soziologin und Gesundheitswissenschaftlerin, im Interview. "Warum leben Sie noch?", fragt Interviewer Hagen Gersie. Antwort:
"Weil die Schöpfung uns so ausgestattet hat, dass wir verletzlich und endlich sind. Beides wissen wir und von beidem wissen wir nicht, wann es kommt. Meine Seele hat besser durchgehalten als mein Körper. Oder anders: Da ist ein starker Wille zu leben."

"Ein Hauch des Jung und Wilden" mit 80 Jahren

Und diesen Willen hat ganz offenbar ein Geburtstagskind: "Hans Neuenfels, der an diesem Montag tatsächlich schon 80 Jahre alt wird, umweht noch immer ein Hauch des Jungen und Wilden", gratuliert der TAGESSPIEGEL.
"Der Regisseur Shakespeares, Goethes, Kleists, Wedekinds", zählt die SÜDDEUTSCHE auf, "der Musiktheatermann Mozarts, Verdis, Wagners, der Schriftsteller und Filmautor Hans Neuenfels, dessen verwundbare Emotionalität und Lust auf Durchdringung seelischer Befunde oft als Provokation empfunden wird", so Wolfgang Schreiber. Und Peter von Becker meint im TAGESSPIEGEL: "Seine szenischen Metaphern sind so enigmatisch wie schlagend."
Enigmatisch heißt völlig zu Recht: rätselhaft. "Die Aufklärer schrieben", steht in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN, "für ein breites Publikum" – wie uns Susan Neiman aufklärt. "Selbst Kant, der kein begnadeter Schriftsteller war, schrieb fünfzehn gut lesbare Aufsätze für die Berlinische Monatsschrift. Orientierung im Denken wird heute noch dringender gebraucht." Wohl wahr.
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