Aus den Feuilletons

Wenn das Private verschwindet

Der Soziologe und Sozialpsychologe Harald Welzer, aufgenommen am 13.10.2011 auf der Frankfurter Buchmesse.
Jede „beschissene“ App werde bejubelt, kritisiert Harald Welzer in der „Berliner Zeitung“. © picture-alliance / dpa / Arno Burgi
Von Adelheid Wedel |
Das Verschwinden der Privatsphäre gefährde die Demokratie, beklagt Harald Welzer im Interview mit der „Berliner Zeitung“. Dabei öffneten die meisten Menschen den digitalen Angreifern bereitwillig Tür und Tor, so der Soziologe.
„Wir gefährden die Demokratie, wenn wir die Grenzen zwischen öffentlich und privat aufheben, sei es mutwillig oder nachlässig.“
Das klingt so logisch wie einfach, und ist doch alles andere als das. Den Beweis dafür liefert ein Interview mit dem Soziologen und Sozialpsychologen Harald Welzer in der BERLINER ZEITUNG.
„Die Privatheit war noch nie in der Geschichte, in keiner der totalitären Gesellschaften, so im Verschwinden begriffen wie heute.“
Noch so ein Kernsatz von Welzer, den er im Ergebnis eines Forschungsprojektes über Helfer im Nationalsozialismus festhielt.
„Tausende überlebten ja nur deshalb“,
sagt er,
„weil irgendjemand sie versteckt hat und das geheim halten konnte. Irgendwann dachte ich, verdammt, die hätten heute überhaupt keine Chance mehr.“
Nach seiner Beobachtung sei da keine Weltverschwörung im Gang:
„Sondern ein Prozess technischer Machbarkeiten, der quasi automatisch Machtverschiebungen und Veränderungen der Demokratie nach sich zieht.“
Jede „beschissene“ App wird bejubelt
Kritisch merkt er an:
„Wir sind Teil des Problems. Wir bejubeln jede beschissene App oder den Fernseher, der auf Sprachkommando reagiert. Aber zugleich sind wir empört über Angriffe auf unsere Privatsphäre, obwohl wir den Angreifern Tür und Tor öffnen.“
Wie nachlässig wir mit dem sehr ernsten Problem umgehen, erklärt er an einem Beispiel. Regierungssprecher Seibert hat das Abhören von Kanzlerin Merkels Handy mit den Worten kommentiert: Unter Freunden geht das gar nicht.
„Falsch! Es geht überhaupt nicht.“
Literatur als Droge
Die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG serviert uns mit Leif Randts fantastischem Roman „Planet Magnon“ eine „literarische Droge".Das bei Kiepenheuer und Witsch erschienene Werk verblüfft, mit welcher Präzision der Autor Zukunftswelt aufnimmt und gestaltet, lobt der Rezensent Philipp Theison. Es geht im Roman um diese eine Frage:
„Wenn sich die Menschen einst in einem Leben eingerichtet haben werden, das keine eigentlichen Konflikte mehr kennt, sondern nur noch die technische Perfektionierung der Selbstsorge – was wird man dann dafür geopfert haben?“
Man habe es mit einem Thesenroman zu tun, so die NZZ, und nennt die These:
„Die Realisation der neuen Gemeinschaft, das kollektive Bewusstsein befreit den Menschen von seinem Unglück. Zugleich aber löscht sie auch die Erinnerung an all das aus, was er einmal gewesen war – und dieser Verlust ist schmerzhaft.“
Theisonlas den Roman so:
„Randt prescht nicht offensiv in das posthumane Zeitalter vor, sondern verharrt zögernd an seinen Grenzen.“
Vertrauend auf die „Kraft des Unbewussten“
Die Tageszeitung TAZ stellt ein anderes literarisches Ausnahmetalent vor: Rachel Kushner. Die 46-jährige US-Amerikanerin ist in Deutschland auf Lesetour mit ihrem zweiten Roman „Flammenwerfer“, der gerade auf Deutsch bei Rowohlt erschienen ist. Die englischsprachige Presse "feierte ihn als Great American Novel des 21. Jahrhunderts“.
Fatma Aydemir übernimmt das Lob:
„Kein Wunder, denn auf 560 Seiten handelt Kushner scheinbar zusammenhanglos Themen wie Motorradrennen, Konzeptkunst, Industriegeschichte und Anarchismus in Form einer wunderschön fließenden Geschichte ab – in rasantem Tempo und glasklarer Sprache. Und mit einem ernüchterten Blick auf alles Verheißungsvolle: Geschwindigkeit, Sex, Revolution.“
Vertrauend auf die „Kraft des Unbewussten"schickt Kushner ihre Heldin von New York nach Utah, von Rom nach Mailand, bis nach Alexandria und in den brasilianischen Dschungel.
„Die Geschichte ist komplett fiktional, aber sie enthält alles, was ich über das Leben denke,“
verrät Kushner im Gespräch mit der TAZ.
Hoffen auf eine neue Protestkultur
Auch dem TAGESSPIEGEL können wir einen Literaturtipp entnehmen. Die 1982 in Philadelphia geborene Soziologin Alice Goffman hat ein Buch vorgelegt, das ihre Aussage stützt:
„Wir haben ein Polizeiregime in den USA.“
„On the Run“ handelt „von der Kriminalisierung der Armen in Amerika“ und ist gerade im Verlag Antje Kunstmann erschienen. In den USA hat es hymnische Rezensionen erhalten, schreibt der Tagesspiegel, denn es handelt nicht nur „von Gewalt gegen Schwarze“, sondern vor allem von Goffmans „Hoffnung auf eine neue Protestkultur“.
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