Aus den Feuilletons

Wenn aus Transparenz plötzlich Zensur wird

Ein Tablet-Benutzer blickt auf ein Facebook-Logo.
Ein Tablet-Benutzer blickt auf ein Facebook-Logo. © imago/Future Image
Von Hans von Trotha · 26.06.2017
"Der Algorithmus zeigt nur solche Ergebnisse an, die auch gefragt sind", schreibt der Philosoph Emmanuel Alloa in der "SZ" über den Fehlschluss, die digitale Vernetzung führe zu mehr Vielfalt. Auch andere Zeitungen beschäftigen sich an praktischen Beispielen mit Algorithmen.
Ein Tag, als sei das Feuilleton ein Medienseminar: Was Philosophen in der SÜDDEUTSCHEN und in der NZZ theoretisch darlegen, mahnen Medienkritiker in TAZ und FAZ gleich praktisch an. Die Botschaft: Warnung vor dem Algorithmus!
"Nordgelüste" unterstellt darüber hinaus ebendiese SÜDDEUTSCHE ebendieser NZZ:
"Die 'Neue Zürcher Zeitung'",
heißt es,
"drängt mit einem Digitalangebot auf den deutschen Medienmarkt. In einer Publizistik mit bürgerlich rechts-konservativer Weltsicht vermutet man eine Marktlücke."
Da schauen wir doch gleich mal hin.

"Sind Algorithmen nur Algorithmen?"

Mit dem Beitrag "Das Netz ist nie neutral" besetzt die NZZ das Thema des Tages ausgesprochen neutral. "Sind Algorithmen nur Algorithmen?", fragen die Philosophin Anna-Verena Nosthoff und der Literaturwissenschaftler Felix Maschewski. Sie meinen:
"Die digitale Elite glaubt das und beweist damit eine erstaunliche Phantasielosigkeit. … Die These des zweischneidigen Charakters der Technik wird … häufig von einem naturnahen Bilderkosmos begleitet. Für (Mark) Zuckerberg ist Facebook ein 'lernender Organismus', Teil 'evolutionärer' Prozesse; (Stanford-Professor Michael) Kosinski erscheint die Digitalisierung als 'so unaufhaltsam wie Hurricanes'.
Angesichts solch erhabener Kräfte seien ihre Folgen – etwa das "Ende der Privatheit" – natürliche Vorgänge, die man akzeptieren müsse, ohnehin sei es "egoistisch, die eigenen Daten nicht zu teilen".
"Es ist bekannt, dass es die Waffen- und-Wiesen-Metaphoriker aus dem Silicon Valley mit der Privatheit – ausser natürlich ihrer eigenen – nicht so genau nehmen." "Doch spätestens, wenn sie menschengemachte Techniken wie übermenschliche Naturgewalten beschwören und dabei erklären, 'Algorithmen seien neutral wie ein Messer' (Kosinski), sollte dies irritieren. Jenseits des Schleiers natürlicher Neutralität drängt sich die Frage auf: Sind Mittel nur Mittel, Algorithmen nur Algorithmen?"

Transparenz als "besonders wirksame Form von Zensur"

In der SÜDDEUTSCHEN findet der Philosoph Emmanuel Alloa zum gleichen Thema nicht minder klare Worte:
"Anders als vielfach angenommen, wird das Zeitalter der Zensur keinesfalls von einem Zeitalter der Transparenz beerbt. Transparenz löst die klassische Zensur nicht etwa ab, sondern stellt eine neue, besonders wirksame – weil unbemerkte – Form von Zensur dar."
Alloa meint:
"Das Versprechen, die digitale Vernetzung würde automatisch zu mehr Diversität – und damit zu einem akkurateren Gesamtbild – führen, erwies sich als Fehlschluss. In Wirklichkeit führt gerade der gesteigerte Kommunikationszwang zu neuen Uniformierungsbewegungen und, mittelbar, zu neuen Formen der Zensur. … Der Algorithmus (da ist er wieder!) zeigt nur solche Ergebnisse an, die auch gefragt sind. Dass Algorithmen keineswegs nur eine kritischere, durchlässigere Gesellschaft befördern, sondern die sogenannte cognitive insularity nachgerade unterstützen, ist alles andere als neu."
Es hat ganz schön gedauert, bis sich die Feuilletons den Algorithmus endlich einmal vorgeknöpft haben. Der versteht ja nicht einmal Ironie. Wirklich nicht. Das hat Twitter gesagt. Die Twitter-User nehmen das mit der Zensur nämlich nicht so locker wie der Professor in der SÜDDEUTSCHEN.
"Seit Tagen rumort es in den Social-Media-Kanälen",
berichtet die TAZ,
"von 'widerlicher Zensur' ist die Rede … Die Twitter-Community vermutete, das Unternehmen hätte einen sogenannten Shadowban angewendet … Das Moderationstool mit dem sinistren Namen soll dafür sorgen, dass Hate Speech und Spam weniger Verbreitung finden, indem es die Reichweite bestimmter User einschränkt."
– Aber:
"Wie genau das Tool funktioniert, ist darüber hinaus weitgehend unklar: Es soll auf einem Algorithmus beruhen (worauf auch sonst?), der auf bestimmte Wörter reagiert, wie lange der Bann aber zum Beispiel andauert, ist bisher unbekannt."
Michael Hanfeld nennt es in der FAZ denn auch ein "Schattenspiel": "Dass ein Algorithmus nicht zwischen einer direkten Aussage, einem Zitat oder Ironie unterscheiden kann, mag man nachvollziehen. Doch kann man eben leider nicht genau nachvollziehen, was bei Twitter eigentlich vor sich geht."
Und Twitter ist eine Firma mit Eigeninteressen – und im Gegensatz zu einem Algorithmus eben kein Algorithmus.
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