Aus den Feuilletons

Weltmeister im Buntsein

Iranerinnen bei einer Islamischen Modemesse in Teheran 2013
Iranerinnen bei einer Islamischen Modemesse in Teheran 2013 © dpa / picture alliance / Abedin Taherkenareh
Von Klaus Pokatzky · 11.09.2015
In Teheran gibt es immer mehr taillierte Mäntel, lackierte Fingernägel, farbige Kopftücher bei den Frauen, berichtet die "FAZ". Die Iraner hoffen demnach auf Öffnung zur Welt und blicken vor allem nach Deutschland − dessen Soziologen sich an der allgemeinen Hilfsbereitschaft freuen.
"Wir brauchen Weisheit". Das sagt im Interview mit dem neuen SPIEGEL der russische Dirigent Walerij Gergijew. Weisheit statt Werbung. "Das russische Fernsehen ist heute voll mit Unsinn und Werbung", erklärt der neue Chef der Münchner Philharmoniker und alte Putin-Wahlkämpfer.
"Würde jedoch anstelle der Werbung Musik von Prokofjew und Tschaikowski oder von Mozart, Brahms und Beethoven gesendet, wäre die Welt in einem besseren Zustand."
Vor allem, wenn bei Tschaikowski dem russischen Publikum dann auch immer erklärt würde, dass Pjotr Iljitsch schwul war. "Strikte Regeln bestimmen das Leben", erfahren wir aus der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG über das Leben in Teheran. "Pärchen ohne Trauschein können wegen der islamischen Gesetze nach einem gemeinsamen Treffen in einem Café oder wegen ‚zu aufreizender Kleidung' schon mal auf einer Polizeiwache landen", schreibt Bita Schafi-Neya. Trotzdem gibt es in Teheran immer mehr "taillierte Mäntel, lackierte Fingernägel, farbige Kopftücher" bei den Frauen; "Irans Hauptstadt ist bunter geworden." Da lockt das ferne Land, das in diesen Tagen seine Bewerbung zum Weltmeister im Buntsein angemeldet hat.
"Fast alle jungen Leute in Iran blicken mit Interesse auf Deutschland und die Deutschen, denen hier traditionell große Wertschätzung entgegengebracht wird. Die vorsichtige politische Öffnung des Landes unter Präsident Hassan Rohani, der seit einem Jahr im Amt ist, und die Einigung im Atomstreit beflügeln die Hoffnung der jungen Iraner auf einen Austausch mit Gleichaltrigen in aller Welt."
Buchmesse gibt Flüchtlingen freien Eintritt
Und damit sind wir bei dem Thema, das sich wieder einmal durch die Feuilletons zieht und noch lange ziehen wird: die neue deutsche Willkommenskultur. "Berliner Benefizkonzerte für Flüchtlinge", kündigt der TAGESSPIEGEL an. "Ein Zeichen der Solidarität mit den Flüchtlingen", so die Tageszeitung DIE WELT, wollen auch die Bücherliebhaber senden. "Man werde, gab der Direktor der Frankfurter Buchmesse bekannt, Flüchtlinge einladen, die Messe zu besuchen, ohne Eintritt zahlen zu müssen", schreibt Henryk M. Broder und mäkelt: "Man kann wohl davon ausgehen, dass ein Besuch der Buchmesse bei den Flüchtlingen nicht ganz oben auf der To-do-Liste steht." Möglicherweise glaubt Henryk M. Broder ja, dass die sowieso alle nicht lesen und schreiben können.
So wie etwa Mamduh Azzam, der syrisch-drusische Schriftsteller, der eine "Einladung des belgischen PEN für einen dreimonatigen Aufenthalt als Writer in Residence" bekommen hat, wie die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG berichtet: "Die belgische Botschaft in Beirut jedoch verweigerte Azzam das Visum." Offenbar aus Angst, der Mann, der sehr gut auf die Frankfurter Buchmesse passen würde, könnte belgisches Asyl beantragen. "Hätte wirklich dieser eine, obendrein geladene Gast, wäre er denn geblieben, das belgische Boot zum Kentern gebracht?", fragt die NEUE ZÜRCHER.
Tiefes Gefühl der Sicherheit
"Wo sonst gibt es diese unerwartete Welle von bürgergesellschaftlichem Engagement für die Flüchtlinge?", fragt wiederum der Soziologe Harald Welzer im SPIEGEL und kann seinen Augen kaum trauen, wenn er sieht, wie seine Deutschen die Flüchtlinge willkommen heißen:
"Mich erfüllt es mit einem tiefen Gefühl gesellschaftlicher Sicherheit und eben auch Zugehörigkeit zu sehen, dass die Mehrheitsbevölkerung und die Mehrheitspolitik sich auf spektakuläre Weise solidarisch zeigen und eben deshalb für andere eine Hoffnung auf Heimat bilden."
Und was kommt später – fragt sich da ein anderer Soziologe, Armin Nassehi, im Interview der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG:
"Die Hilfsbereitschaft ist großartig, aber was geschieht, wenn das Charisma der Situation verschwindet und nachhaltige Integrationsfragen beantwortet werden müssen?"
Dann sollten wir einfach auf den Dirigenten Walerij Gergijew hören:
"Wir brauchen Weisheit".
Mehr zum Thema