Aus den Feuilletons

Was "Warten auf Godot" und der Brexit verbinden

04:21 Minuten
Peter Striebeck (l) und Ralf Schermuly als Wladimir und Estragon in einer Szene des Theaterstücks "Warten auf Godot" von Samuel Beckett am 18.10.1972 bei Proben im Hamburger Thalia-Theater.
Die unbeantwortete Frage, ob der Brexit kommt, erinnere an das Theaterstück "Warten auf Godot" schreibt die "NZZ". Hier eine Szene aus Becketts Theaterstück am Thalia-Theater von 1972. © picture-alliance / dpa / Werner Baum
Von Hans von Trotha |
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"Kommt er – oder kommt er nicht?" ist die Kernfrage in Samuel Becketts Theaterstück "Warten auf Godot". Und die passe auch auf das Drama beim Brexit, schreibt die "NZZ". Beantworten sollten die Briten allerdings eine Reihe viel wichtigerer Fragen.
In der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG nimmt uns der Philosoph Christoph Quarch mit auf die "digitale Lichtung". Er schlägt Lichtungen in die Geschichte des Waldes und landet am Ende in der Stadt.
"Die Geschichte der Menschheit kann man auf vielerlei Art erzählen. Eine ungewöhnlich kurze Fassung gibt es von Giambattista Vico. In seiner 'Scienza Nuova' von 1744 lässt er seine Leser wissen: 'Zunächst gab es die Wälder, dann die Hütten, darauf die Dörfer, später die Städte und schließlich die Akademien.'"
"Da hat er sich getäuscht", korrigiert Quarch Vico. "Der letzte Schritt sieht völlig anders aus. Denn er öffnet eine neue Sphäre der Transzendenz, ist gestiftet durch einen erneuten Blitzstrahl: den Blitz aus dem digitalen, virtuellen Raum. Denn wie einst die Giganten eine Lichtung in den Wald brannten, um die Welt beherrschbar zumachen, so schlagen die Menschen heute die digitale Lichtung in den analogen Raum der Städte. Mit dem Eintritt in den digitalen Raum verändert sich die analoge Welt zu dem, was sie am Anfang war – sie wird zum Wald."

Computer als beste Freunde

Ein Wald, in dem man sich die Welt zurechtstreamt. Dazu passt ein Gespräch, das die FAZ mit Amazon-Musikchef Steve Boom bringt, der – keine Witze über Namen – aber das kommt da wirklich vor: eigentlich Baum heißt und, auch das kommt da vor, "nicht eine einzige Vinylplatte besitzt", weil seine geliebte Sammlung von einer analogen Flut zerstört wurde. Das kann der Flut digitaler Streamingangebote naturgemäß nicht passieren. Wie jeder gewiefte Selbtsvermarkter versucht Mr. Boom alias Baum sich im Interview selbst die Fragen zu stellen. Das geht dann so:
"Die Frage ist: Wie macht man Streaming einfacher? Die Antwort ist: Alexa. Sie ist wie ein Freund, der einem etwas empfiehlt."
Alptraum 2.0: Wir stehen allein in Quarchs "digitaler Lichtung" und haben nur noch Alexa. Dabei ist das, was uns umgibt, alles andere als ungefährlich. Der Wald ist nämlich, noch einmal Christoph Quarch: "nackte, ungehobelte Lebendigkeit. Wer sich in den wilden Wald begibt, muss damit rechnen, beim Verlassen nicht mehr der zu sein, der er war, als er in ihn eintrat."

Vom Wald zum Betondschungel

Wer meint, in der Stadt sei er sicherer, freut sich zu früh, denn, so Quarch: "Der urbane Raum der analogen Stadt wird bald den Wald beerben. Er wird mehr und mehr zum Großstadtdschungel, Sehnsuchtsort für Abenteurer, neue ‘wilde Männer‘, die mit ihren dichten Bärten durch die Brachen welker Straßen streichen. Oder neuer Hexen und Sirenen, die sich den geordneten, sterilen und gut ausgeleuchteten Datenkorridoren der digitalen Welt entziehen."
Fragt sich, durch welche Stadt der Philosoph zuletzt "gestrichen" ist. München kann das kaum gewesen sein. London vielleicht? Durch das "streicht" Paul Ingendaay für die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG und stößt immerhin auf ein Schild mit der Aufschrift: "It’s sunny and it’s the weekend, let’s get drunk and naked!"

Der Brexit ist unwichtig

Dreimal dürfen Sie raten, warum Ingendaay durch London "streicht". Richtig: Er will, um im Bild zu bleiben, eine Lichtung ins Dickicht der Frage schlagen: "Was, zum Teufel, geht hier gerade vor?", sprich: Brexit. Den nennt Roman Bucheli in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG "Warten auf Godot 2.0.": "Kommt er – oder kommt er nicht?"
Bucheli hat immerhin konkrete Vorschläge: "Statt über den Brexit zu reden, könnten die Briten die Monarchie abschaffen und den Buckingham-Palast stürmen oder Downing Street 10 räumen und hier Cameron einsperren. Und nebenbei müsste er an einer Schweizer Universität einen Fernkurs belegen über die Vor- und Nachteile der Referendumsdemokratie."

Parallelen zu "Godot"

In London verrät derweil Nicholas Spice, Herausgeber des LONDON REVIEW OF BOOKS, dem Flaneur Paul Ingendaay:
"Über den Brexit zu lesen ist wie eine Sucht. Aber eine Sucht ohne High. Man fängt immer wieder von vorn an. Man sagt sich: Jetzt erfahre ich vielleicht etwas Neues! Aber das Neue existiert nicht. Es gibt in der Sache einfach nichts, was nicht vom ersten Tag an klar gewesen wäre."
Klar wie eine Lichtung. Auf der man fast allein steht, nur Alexa als Freundin. Und dann endet es wie das "Warten auf Godot" von Samuel Beckett, ein Ende, an das Roman Bücheli mit Blick auf den Brexit erinnert:
"'Also? Wir gehen?', sagt Wladimir zu Estragon. Und dieser: 'Gehen wir!' Und sie rühren sich nicht von der Stelle. 'They do not move', lautet die letzte Regieanweisung, bevor der Vorhang fällt."
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