Aus den Feuilletons

Warum Europa selten so ratlos war

Kanzlerin Angela Merkel bei einer Pressekonferenz im Juli 2015
Kanzlerin Angela Merkel bei einer Pressekonferenz im Juli 2015 © picture alliance / dpa / Ian Langsdon
Adelheid Wedel · 07.08.2015
Der EU fehle es in der Flüchtlingskrise an politischer Gestaltungskraft, schreibt der polnische Historiker Wlodzimierz Borodziej in der FAZ - und erinnert daran, dass Europa einst ein Kontinent der Auswanderer war.
"Dauer-Schuldenkrise um Griechenland, ein Krieg vor der östlichen Haustür, Massen von Flüchtlingen, die im Süden Einlass begehren – selten war Europa so ratlos wie heute",
schreibt Wlodzimierz Borodziej in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG. Der Professor am Historischen Institut der Universität Warschau stellt Europa auf den Prüfstand und kommt zu dem Ergebnis:
"Zwar schafft es die EU, die vielen Brandherde einigermaßen unter Kontrolle zu halten, doch fehlt es darüber hinaus an politischer Gestaltungskraft."
Der Historiker erinnert daran – und es klingt fast wie ein Nachruf:
"Es war ein so schönes Projekt. Nach unzähligen Kriegen, letztlich von allen Beteiligten verloren, einigte man sich in Europa darauf, bilaterale Konflikte anders zu lösen, nämlich durch Verhandlungen, gegenseitige Rücksichtnahme, Abwägung und Interessenausgleich. Das Prinzip funktionierte bis 2008",
meint der Autor. Er beklagt,
"der ungarische Zaun an der Grenze zu Serbien stellt nur eine der vielen unbeholfenen Antworten Europas auf die Herausforderung durch die Immigration aus dem Süden dar."
"Europa war ein Kontinent der Auswanderer"
Fast wäre es in Vergessenheit geraten:
"Bis 1914 war Europa ein Kontinent der Auswanderer, vor allem in die USA."
Jetzt aber ist Europa
"auf die Aufnahme von Millionen von Flüchtlingen innerhalb von wenigen Jahren oder gar Monaten nicht vorbereitet."
Auch Borodziej kennt keinen Ausweg, er konstatiert lediglich eine
"neue Teilung Europas in Norden und Süden, die einander sprachlos gegenüber stehen."
Eine überraschende literarische Wiederbegegnung
In der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG macht Mathias Meyer auf eine überraschende literarische Wiederbegegnung aufmerksam.
"Vor 400 Jahren schrieb ein Spanier das Buch unserer Gegenwart: Miguel de Cervantes' letzter Roman 'Persiles'."
Meyer berichtet:
"Seinen Roman der Bootsflüchtlinge, der Auswanderung und Asylsuche, der von Norwegen, Irland und Polen bis nach Portugal und Italien reicht, scheint Cervantes erst wenige Tage vor seinem Tod geschrieben zu haben."
Dem spanischen Nationalautor selbst war dieser Roman sehr wertvoll. Das nach seinem Tod erschienene Werk ist damals ein Erfolg gewesen, noch im Jahr 1617 erfuhr es sechs Auflagen, wurde gleich zweimal ins Französische und einmal ins Englische übersetzt. Die FAZ betont,
"wie überraschend, ja verblüffend modern sich Cervantes' Erzählung ausnimmt, als Spiegelbild zahlloser Lebensgeschichten von Vertriebenen, die unter unsicheren Umständen... die Meere rund um Europa durchqueren und hier oder da an Land gespült werden, um doch wieder aufbrechen zu müssen."
Ein Blick in das Labor der US-Geheimdienste
Die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG druckt einen Bericht von Andrian Kreye ab. Auf einem Weingut bei San Francisco gelang ihm ein Blick in das Labor der US-Geheimdienste. Ausgangspunkt dieses Treffens, zu dem die Edge-Stiftung eingeladen hatte, war die Feststellung:
"Die Arbeit der Geheimdienste muss sich grundlegend ändern."
Seit den 80er-Jahren arbeitet der Psychologieprofessor Philip Tetlock genau daran, seit vier Jahren forscht er an der University of Pennsylvania im Auftrag der IARPA. Kreye erklärt, was darunter zu verstehen ist.
"Es ist das Forschungsinstitut für Intelligence Advanced Research Projects Activity, das die NSA und die CIA 2006 gemeinsam mit 14 weiteren US-Geheimdiensten gründeten, um nach den Anschlägen von 2001 neue Methoden der Geheimdienstarbeit zu entwickeln."
Am vergangenen Wochenende traf sich Philip Tetlock mit 20 Wissenschaftlern und Ingenieuren – darunter intellektuelle Schwergewichte wie der Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahneman - um die Ergebnisse seiner Forschungen zu diskutieren. Tetlock erfand als Methode Prognose-Turniere, um auf diese Weise Superprognostiker zu spezialisieren. Kahneman ließ sich auf diese Neuerung ein. Das sei
"eine große Chance, wissenschaftliche Standards in die Geheimdienstarbeit einzuführen",
meint er. Bis heute verfassten Geheimdienste ihre Berichte als Essays, also sehr ungenau.
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