Aus den Feuilletons

Wagner-Open-Air als trotzige Faust in Richtung Virus

06:19 Minuten
Die Richard-Wagner-Büste des Bildhauers Arno Breker nahe des Festspielhauses auf dem Grünen Hügel.
"Wagner wirkt meiner Erfahrung nach auf viele der Jüngeren immer noch elitär und damit sozial distanzierend“, schreibt Thomas Herrig in der „FAZ“. © imago images / Camera4 / Eberhard Thonfeld
Von Arno Orzessek · 01.08.2020
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Die Bayreuther Festspiele fallen dieses Jahr coronahalber aus. Eine Stunde Wagner-Musik wurde auf dem Grünen Hügel trotzdem gegeben. Die "FAZ" moniert, dass jüngere Generationen nicht abgeholt würden und empfiehlt, doch ruhig mal Influencer einzuladen.
Es dürfte mit William Faulkners Roman "Licht im August" zu tun haben, dass wir diesen Monat jedes Jahr aufs Neue als Verdichtung und Vollendung des Sommers erleben. Und deshalb beginnen wir auch mit einem Sommerthema."'In der Sonne kann man sich nicht langweilen, man badet im Quell der Zeit'", hatte Ernst Jünger 1943 in sein Tagebuch notiert.
Thomas Ribi behauptete in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG nun das Gegenteil:
"Die Wärme der Sonne ist der Ursprung der Langeweile. Da, wo die Zeit entspringt, steht sie still. Und in der Sonne lauert sie auf ihre Opfer: die Unlust, die sich durch nichts vertreiben lässt, der Überdruss an allem. An der Welt und sich selbst."

Der Dämon der Langeweile

Ribi verwies auf den daemon meridianus, den Mittagsdämon, den schon die Antike gekannt hatte – und übersetzte ihn für unsere Zeiten als "Dämon der Langeweile":
"Er versetzt uns in einen Zustand lähmender Trägheit. Und zugleich in eine quälende Unruhe, aus der es kein Entrinnen gibt. Auf einmal ist da nichts mehr als eine grosse Leere, um uns herum und in uns drin. Es ist der Hauch einer ungeheuren Kälte, die die ärgste Hitze eines Sommertags durchdringt. Wir wissen, dass uns nichts fehlt. Und spüren, dass es uns an allem mangelt, was wir brauchen."
Starker Tobak für glückliche Sonnenanbeter: Der NZZ-Artikel "Im Paradies sind wir verloren".

"Wiese rechts" und "Wiese links"

"Wahn, Wahn! Überall Wahn!", verkündete unterdessen die Tageszeitung DIE WELT, den berühmten Ausruf aus dem Wahnmonolog des Hans Sachs in der Wagner-Oper "Die Meistersinger von Nürnberg" zitierend.
Die Bayreuther Festspiele fallen dieses Jahr zwar coronahalber aus, aber ein einstündiges Portiönchen Wagner-Musik wurde auf dem Grünen Hügel trotzdem gegeben, wie Peter Huth in der WELT berichtete.
"Heute sitzen wir draußen. Die Eintrittskarten vermerken ‚Wiese links‘ oder ‚Wiese rechts‘. Das ‚Wahnfried Open Air‘ vor des Meisters Villa ist eine trotzige Faust in Richtung Virus: Ja, du hältst uns klein, aber du besiegst uns nicht. Christian Thielemann dirigiert im Wohnzimmer des Meisters ein auf 14 Musiker reduziertes Orchester. Der BR überträgt, auch in den Garten, wo wir nun statt auf hartem Festspielhausholzgestühl auf nicht weniger hartem Plastik sitzen. Und ja, es funktioniert, ganz wunderbar sogar. Feierlich ist es, aber mit dieser ganz besonderen Bayreuther Lässigkeit, die, gegen das Klischee, weit jenseits von jedem elitären Dünkel ist."
So Peter Huth, der auf einem Foto mit Corona-Maske zu sehen war - Aufschrift: "Wahn, Wahn! Überall Wahn". "Wird garantiert ein Sammlerstück", meinte die WELT.

Ist Wagner noch zeitgemäß?

Während Huth den Festspielen – trotz Ausfalls – tolle Noten gab, kritisierte Thomas A. Herrig in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG den Gesamt-Komplex Wagner:
"Wagner wirkt meiner Erfahrung nach auf viele der Jüngeren immer noch elitär und damit sozial distanzierend. Ob dieser Wagner also noch zeitgemäß ist? Ich spiele mal den advocatus diaboli und sage: ganz klar nein. Denn so wie ihn die Breite des Kulturbetriebs präsentiert, ist er für junge Leute zu wenig attraktiv."
Thomas Herrig, 28 Jahre alt, seit elf Jahren bekennender "Wagnerianer", empfahl neue Diskursstrategien: "Warum nicht sagen, dass einen der ‚fette Sound‘ mitgerissen hat? Warum nicht einen Influencer dafür gewinnen, nach Bayreuth zu kommen, um sich ein eigenes Bild zu machen? Und warum nicht mal einen digitalen Talk bei YouTube starten, in dem man generationsübergreifend diskutiert: ‚Wagner? Braucht man den noch, oder kann der weg?‘"
Sorgen um die Bayreuther Festspiele machte sich auch die Wochenzeitung DIE ZEIT. Das Fortbestehen sei durch Corona ernsthaft gefährdet, konstatierte Christine Lemke-Matwey, und fügte hinzu: "Dabei ist die Welt ohne sie gar nicht denkbar". Wagner-Skeptiker dürften diesen Ausspruch in der Rubrik ‚Feuilletonisten-Wahn‘ abheften.

Über das (kosmo)politische Potenzial von Clubkultur

Eine Seite weiter hieß es in der ZEIT: "Die Party ist vorbei" – und diese trübe Erkenntnis bezog sich auf die Berliner Clubszene. Was verschwindet, falls die Clubs verschwinden, machte Jens Balzer an der Musik fest:
"In ihren avanciertesten Formen zeigte die Clubmusik der letzten Jahre, welches politische Potenzial einer kosmopolitischen Kultur innewohnt; in den besten Momenten zeigte sich in ihr die Utopie einer grenzenlos gewordenen Welt. Darum trifft sie der Stillstand der Globalisierung, der auf die weltweiten Covid-19-Shutdowns nun folgt, nicht nur auf der Oberfläche der Organisation von Programmen und DJ-Tourneen – sondern tief in ihrem ästhetischen und utopischen Kern. Im Kollaps der Clubkultur spiegelt sich der Kollaps einer Globalisierung, die Menschen eben auch dabei helfen konnte, sich aus der Repression, der kulturellen und politischen Enge ihrer Heimatländer zu befreien."

"Moralisierende neue Generation"

In den Krawallzonen der öffentlichen Debatte war natürlich auch wieder was los. In der WELT reagierte Manfred Klimek extrem patzig darauf, dass Nachwuchsjournalisten um Leonie Schlick den "lieben weißen Boomern" geraten hatten, ihren Platz in den Medien für Menschen aus der Gruppe "Black, Indigenious & People of Colour" zu räumen.
Als eine "Klasse von Robespierristen", die "köpft, statt austariert", bezeichnete Klimek die Gruppe um Schlick – und setzte nach:
"Heute geht es im Journalismus darum, andere und sich selbst zu bezichtigen. Es geht um Reinigung von Rassismus, Unmoral und allem Reaktionären. Um Reinigung vom Alter, von den Alten, die ja für Rassismus, Unmoral und Reaktion das Schwert führen. So denkt eine moralisierende neue Generation. Und diese Personenschaft wird in den Redaktionen alsbald die Mehrheit sein."
Wäre das gut? Wäre es schlecht? Es sei dahingestellt.

Plädoyer für universelle Werte

Immerhin: In dem Magazin DER SPIEGEL erklärte der Philosoph Markus Gabriel, das Gute lasse sich grundsätzlich erkennen – und er plädierte für die Gültigkeit universeller Werte:
"Die Behauptung, universelle Werte seien eine europäische Erfindung, halte ich für Nonsens, denn dann wären sie ja nicht universell. Letztlich lautet das moralische Urteil darüber, was wir tun sollten – nämlich das Gute – und unbedingt unterlassen sollen – nämlich das Böse –, überall sehr ähnlich."
Das war's. Haben Sie den Sonntag schon sportlich durchgeplant? Wenn nicht, könnten Sie auf einen Tipp der TAGESZEITUNG zurückgreifen. Sie titelte: "Chill mal".
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