Aus den Feuilletons

Von pathetischen Momenten und Verkleidungsseminaren

Der Dirigent Claudio Abbado
Piano! Claudio Abbado dirigiert bei einer Orchesterprobe 1997 in Köln © dpa / picture alliance / Hermann Wöstmann
Von Maximilian Steinbeis · 20.01.2014
Die Feuilletons gedenken des gestern verstorbenen Dirigenten Claudio Abbado. Die "Süddeutsche" hingegen zeigt merkwürdige Verkleidungspraktiken von Stasi-Agenten und die "Welt" wundert sich darüber, dass Nicht-Leser so glücklich sind.
"Nun ist er gestorben, der größte Dirigent unserer Zeit."
So schmucklos wie Peter Uehling in der BERLINER ZEITUNG gehen sie alle ans Werk, die Nachrufer, die heute in den Feuilletons Claudio Abbados gedenken. Ihre ganze stilistische Brillanz, ihre ganze funkelnde Formulierlust lassen sie stecken angesichts dieser Aufgabe, sie hilft ihnen nichts, sie wäre fehl am Platz.
"Sein Tod war vorhersehbar, aber nun ist er doch ein gewaltiger Schock", schreibt Regine Müller in der TAZ. In der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG protokolliert Wolfgang Schreiber, was ihm an Gedanken und Erinnerungen aus dem Gedächtnis steigt, darunter eine Zeile des spanischen Dichters Antonio Machado:
"Wanderer, deine Spuren sind der Weg, der Weg entsteht im Gehen."
"Himmlisch schön" seien die von Abbado dirigierten Konzerte gewesen, erinnert sich Peter Hagmann in der NZZ.
"Man kann es nicht anders als mit dem verbrauchten Adjektiv beschreiben. Fast jedes Mal kam es zu diesen seltenen Augenblicken, in denen die Uhren angehalten wurden", schreibt Eleonore Bühning in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG.
"Gewiss, das ist, wenn man es so schwarz auf weiß aufschreibt, pures Pathos. Aber so war das nun mal. Glücklich, wer dabei gewesen ist."
Stasi-Agent in Westtouristen-Verkleidung
So war das nun mal: Fernab von jedem Pathos und schon gar von jedem Glücksgefühl beugt sich die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG über ein ebenso grausiges wie komisches Kapitel der deutschen Vergangenheit, und zwar anlässlich eines neuen Bildbandes mit Fotografien aus den Stasi-Archiven. Einen dicklichen Strickjackenträger mit Toupet und getönter Brille kriegen wir da zu sehen, die Hände krampfhaft über dem Schritt gefaltet – das Bild ist in einem Verkleidungslehrgang entstanden, in dem der Stasi-Agent lernte, wie man sich als Westtourist verkleidet, um mit anderen Westtouristen kundschafterisch ertragreiche Kontakte knüpfen zu können. Das andere in der SZ abgebildete Foto beschreibt Rezensent Burkhard Müller so:
"Ein kecker, nicht mehr ganz junger Mitarbeiter, dem man lieber nicht in einer Lage begegnen möchte, in der er Macht besitzt und man selbst keine, kniet nieder, um den Ritterschlag vom Großen Abhörorden entgegenzunehmen. Man fragt sich bestürzt, ob die das ernst gemeint haben. Und landet bei der beunruhigenden Vermutung: Nein, schlimmer, so sah es aus, wenn sie lustig waren."
Porträt eines Nichtlesers
Mit spaßigem Bildmaterial beglückt uns auch die WELT, die mit dem Foto eines wunderschönen Italieners mit Telefonino am Ohr und Zahnpastawerbungsgrinsen im Gesicht einen Artikel mit dem Titel Ich lese nicht, also bin ich ihres Herausgebers Thomas Schmid illustriert.
"Lesen bildet und unterhält, der Lesende navigiert besser durchs Leben als der, der es unterlässt", beginnt der Artikel.
Mit diesem Imperativ sind wir aufgewachsen. Man kann es auch anders sehen und dabei einen keineswegs unbedarften, blöden Eindruck machen.
Als Beleg dafür führt der WELT-Autor einen Italiener an, den er N.L. nennt – für Nicht-Leser. 46 Jahre ist der Mann alt, Kontrabassist in einem Opernorchester, bewohnt, zusammen mit zwei Katzen, eine schöne, geschmackvoll eingerichtete Wohnung irgendwo in Italien. An den Wänden hängen Gemälde, Drucke, Zeichnungen. Und er hat seit 30 Jahren kein Buch mehr in der Hand gehabt. "Warum liest so einer nicht?", fragt Schmid und erhält wenig Überraschendes zur Antwort: keine Zeit, keine Lust.
Ein Verächter des Wortes ist N.L. freilich auch nicht. Auf Reisen, in Italien, im Ausland, nimmt er gerne bestimmte Zeitschriften mit: Rätselhefte, gerne löst er Kreuzworträtsel.
Ob ihm denn nicht die Verbindung, die "welt- und wirklichkeitsschaffende Kraft des Worts" fehle? Keineswegs, antwortet der anonyme Italiener kühl:
"Gerade die Schrift erlaubt es mir nicht, mich der Welt eines anderen Menschen zu nähern."
So sprachlos scheint die Tatsache, dass es diesen nicht lesenden Italiener gibt, den WELT-Herausgeber gemacht zu haben, dass er zu guter Letzt zum Existenzialisten wird:
"Man muss sich N.L. wohl als einen glücklichen, mindestens zufriedenen Menschen vorstellen."