Aus den Feuilletons

Vermarktung mit Gottes Hilfe

04:19 Minuten
Kanye West im Oktober 2018 im Weißen Haus in Washington.
Der Künstler Kanye West behauptete jüngst, er sei von Gott erleuchtet worden. © picture alliance / Consolidated News Photos / Ron Sachs
Von Hans von Trotha · 25.11.2019
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Gott prahle durch seine Kunst, behauptet Kanye West und zeigt sich so als geschickter Vermarkter seiner Kunst. Interessanter an Kayne sei, dass er trotz allmedialer Präsenz geheimnisvoll und undurchschaubar bleibe, meint die "Süddeutsche".
Was bedeutet es, wenn im Feuilleton ein Text mit den Worten "Und dann" beginnt? Wohl, dass wir uns das, was davor stattgefunden hat, selbst vorstellen sollen.
Jürgen Schmieder berichtet in der SÜDDEUTSCHEN von einer "verstörende(n) Erweckung", wie er es nennt:
"Und dann umarmen sich die Darsteller auf der Bühne. Sie sehen einander an und ihre Blicke sagen: 'Was in aller Welt haben wir da gerade gesehen und gehört?'"

Kanye West bleibt mysteriös

So richtig kann Schmieder uns das auch nicht erklären. Immerhin so viel: "Es ist die neue Extravaganz des Gesamtkunstwerks Kanye West gewesen, der sich seit ein paar Monaten als 'woke' (erweckt) bezeichnet. In einem Interview behauptete (er kürzlich), dass der Allmächtige durch Wests Kunst mit seiner Macht prahlen würde."
Das führe, laut Schmieder, zur Frage: "Hat West Gott nun wirklich als Erlöser gefunden oder doch bloß als Inspiration für einen neuen Werkzyklus und dessen Vermarktung? Aber womöglich ist das natürlich genau die falsche Frage. Denn ist es nicht geniun geniös, dass der Mann in einer Zeit, in der durch die sozialen Netzwerke über jeden fast alles bekannt zu sein scheint, und trotz selbstgewählter medialer Dauerbeobachtung im Reality-TV ein Mysterium bleibt."

Angst vor der Digitalisierung

In derselben SÜDDEUTSCHEN führt derselbe Jürgen Schmieder ein Interview mit Ron Jones, das die Verschmelzung von Gemeinschaftserlebnis, Mysterium und Massenwahn auf ganz andere Weise erhellt. Der heute 79-jährige Lehrer Ron Jones startete 1967 ein "berühmtes Experiment, bei dem er und seine Klasse den Reiz der Macht auskosteten". Und wieder setzt Schmieders Text mit einem "Und" ein:
"Und irgendwann gerät es außer Kontrolle, dieses Experiment an einer High School im Norden Kaliforniens. (Jones) gaukelt seinen Schülern fünf Tage lang vor, dass es eine landesweite Bewegung an amerikanischen Schulen gebe. Plötzlich ist er der Anführer einer Bewegung, die an die Nazi-Zeit erinnert, weil die Schüler sich an Disziplin und der Aussicht auf Macht ergötzen, eine Flagge kreieren und Abtrünnige bestrafen."
Jones spricht in der SÜDDEUTSCHEN über neue Ängste und über den Faschismus. Er sagt:
"Es ist erstaunlich, wie schnell wir unsere Freiheit aufgeben, nur weil wir uns für besser halten als andere. Ich habe meine Schüler kürzlich gefragt, wovor sie am meisten Angst haben." Jones dachte, dass sie 'Klimawandel' sagen würden. "Aber sie haben beinahe einstimmig geantwortet: Digitalisierung!"
"Kinder", erläutert er, "erkennen, dass Technologie dafür sorgt, dass wahre Freundschaften immer schwieriger werden. Sie haben große Angst vor Einsamkeit – und ich glaube, sie haben recht."

Überwältigungsästhetik um jeden Preis

In der taz führt Alexander Nabert das Mysterium des Formats Großveranstaltung, das Phänomen der Überwältigung durch Gemeinschaftserlebnisse, die Nazi-Ästhetik und die Dialektik der Einsamkeit in Online-Communities zusammen, indem er unter dem Titel "Gefühlsgleichschritt" die (nach Eigenwerbung:) "größte Bürger*innenversammlung Deutschlands" kommentiert, die 2020 im Berliner Olympiastadion stattfinden soll.
Naberts Kurzversion lautet: "Eine Kondomfirma, eine Klimagruppe und 'die Wissenschaft' treffen sich im Nazi-Stadion, um via Emotion eine Massenbewegung zu werden. Was kann da schon schiefgehen?
Die Veranstaltung soll den Teilnehmenden das Gefühl geben, dass sie auch als Einzelpersonen Veränderungen bewirken können. Erreicht werden soll das neben gefeierten Stars durch massenhafte Petitionen an den Bundestag, die man aus dem Olympiastadion heraus mit seinem Smartphone mitzeichnen können soll."
Nabert meint, die Veranstaltung scheine "keine Differenz, Vielfalt oder Diskussion zu ersehnen, sondern Eintönigkeit, Elitenhörigkeit und Gleichschritt. Schließlich sollen im Stadion (Zitat Veranstalter) '90.000 Weltbürger*innen, die genau das Gleiche wollen wie du' zusammenkommen."
"Für so etwas ist das Olympiastadion mit seiner faschistischen Ästhetik und seiner NS-Vergangenheit immerhin die konsequente Ortswahl. Ja, eine politische Bewegung muss Gefühle erzeugen, um am Leben zu bleiben. Wenn das Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen, von quasi heiligen Expert*innen vor einer brachialen Kulisse bestätigt wird, gibt das der Bewegung gewiss Aufwind. Nur nur zu welchem Preis?"
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