Verletzte User-Gefühle

"SZ" und "Zeit" klären auf über das Kalifat, das die Islamisten in Irak und Syrien errichten wollen. Die "FAZ" macht sich Gedanken über die EU und die Kommentatoren sind außer sich über psychologische Experimente auf Facebook.
ISIS, die Kampftruppe für einen islamischen Staat in Irak und Syrien, nennt sich jetzt nur noch IS: Islamischer Staat. Und während immer gräßlichere Berichte von immer bestialischeren Massakern bei uns im Westen ankommen, fragen wir uns verwundert, was das denn eigentlich zu bedeuten habe: die Errichtung eines Kalifats. Der Islamwissenschaftler Stefan Weidner gab in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG ausführlich Auskunft: Es handelt sich um eine Geschichtsfiktion, die auf die Anfänge des Islam verweist, als nach Mohammeds Tod seine engsten Mitarbeiter gewissermaßen die Urkirche bildeten – man nannte sie Kalifen, zu deutsch Nachfolger oder Stellvertreter.
Es war ein netter Orientalistenscherz, den Weidner am Schluss seines Artikels machte, indem er auf den165. Vers der sechsten Koransure verweist, in der davon die Rede ist, dass alle Menschen die Stellvertreter des Allmächtigen auf Erden seien, was nichts anderes bedeutet als: Wir alle sind Kalifen. Aber der Scherz ist der gegenwärtigen Lage nicht ganz angemessen, sodass die Hinweise des ägyptischen Politologen Hamed Abdel-Samad in der ZEIT bezüglich Kalifat weitaus handfester sind. Im Interview erklärte Abdel-Samad:
"Viele Araber heute sehen sich in der gleichen Situation wie vor dem Islam: zersplittert, zerstritten, unterjocht von Weltmächten. Im 7. Jahrhundert waren es Byzanz und Persien, jetzt sind es der Westen und Russland. Viele Muslime sehen ihre Regierungen als Vasallen."
Das Grundgefühl der Dschihadisten, so Abdel-Samad, sei ein Heilsversprechen: zu erobern, was ihnen vermeintlich gestohlen wurde. Und Teil eines göttlichen Plans zu sein; das macht ihnen den Durchmarsch bei einer Bevölkerung, die vom Kalifat doch einiges zu befürchten hat, so leicht. Und natürlich gehört auch die jeden Faschismus tragende Lust an Gewalt dazu – oder wie Abdel-Samal es ausdrückte:
"Im Töten liegt ein Versprechen. Gott wird auf unserer Seite sein, wenn wir seine Gesetze befolgen. Das sagen nicht nur Islamisten, sondern auch normale Sunniten, die das in der Schule und in der Moschee gelernt haben. Für manche junge Männer ist es außerdem verführerisch, Macht über Leben und Tod zu haben. Es gibt bei IS Muslime - darunter Ägypter, Europäer, Deutsche - , die in ihren Heimatländern ein Niemand waren. Jetzt werden sie Statthalter in einer kleinen Stadt im Irak und herrschen wie Sultane."
EU-Hauptstadt: Aachen statt Brüssel
Während in der islamischen Welt Krieg und Terror an der Tagesordnung sind, ist es in Europa bloß die Furcht davor – jedenfalls bis jetzt. Allerdings sind wir doch sehr erschreckt, wenn jemand wie Putin unsere Entschlossenheit und unseren Zusammenhalt als Europäer ernsthaft testet. Und überhaupt…
"… inspirieren die politischen Institutionen der EU die Bürger nicht zu den Loyalitätsgefühlen, die für die Funktionsfähigkeit offener Gesellschaften unerlässlich sind…"
wie der britisch-niederländische, in New York lebende und lehrende Schriftsteller und Historiker Ian Buruma in der FAZ schrieb.
"Der Traum von Einheit, der einst der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und später der Union zugrunde lag, war für meinen Geschmack immer etwas zu römisch-katholisch. Man riecht förmlich den Weihrauch des Heiligen Römischen Reiches. Das Kernland der Nachkriegsunion lag an der deutsch-französischen Grenze, im Rheinland und im Elsass. Vielleicht wäre statt Brüssel eher Aachen die passende Hauptstadt gewesen."
Es ist allerdings fraglich, ob Burumas Vorschlag irgendetwas daran ändern würde, daß ein monströser Machtapparat jenseits demokratischer Kontrolle sich anschickt, die Menschen umzuformen, und dass die Menschen anfangen, dagegen allergisch zu reagieren.
A propos Allergie: Noch größere Empörung als die ganze NSA zog Facebook auf sich, nachdem bekannt geworden war, dass der Sozialnetzwerkkonzern vor zwei Jahren ein psychologisches Experiment mit seinen Nutzern durchgeführt hatte. Und zwar wollte man feststellen, ob Menschen, die ständig Statusmeldungen über ihr tolles Befinden posten, anderen, die das lesen, eher Laune machen oder auf den Zeiger gehen. Zu diesem Zweck wurde der Nachrichtenfluss auf Facebook eine Woche lange frisiert und gefiltert, indem eine Testgruppe mehr Positives und eine andere mehr Negatives vorgesetzt bekam – natürlich ohne deren Wissen.
"Es klingt wie Sciene-Fiction"
Darüber gerieten die Zeitungskommentatoren schier außer sich:
"Es klingt wie Science-Fiction. Ein Algorithmus bestimmt über Gefühle, ein Unternehmern steuert, was seine Kunden empfinden",
belferte die ZEIT. Und Michael Hanfeld forderte in der FAZ so eine Art Facebook-Verbot:
"Das Experiment zeigt in Wahrheit nur eins, und das ist nicht neu: Wer bei Facebook postet, gibt seine Privatsphäre auf. Falls es in Europa amtlich bestellte Datenschützer gibt, die sich diesen Titel verdienen wollen, haben sie jetzt einen weiteren Grund zu handeln."
Bloß Rainer Erlinger zeigte sich in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG erstaunlich abgeklärt. Er verwies zunächst darauf, daß es nun mal im Wesen mancher psychologischen Experimente liegt, dass man die Versuchspersonen darüber nicht im vorhinein aufklären kann, weil die Sache dann gar nicht funktioniert. Und er erinnerte daran, dass die subtile Manipulation unserer Gefühle in Politik, Gesellschaft und natürlich auch in der Wirtschaft zum Alltag gehört – auch und gerade zu Marketingzwecken:
"Auch weiß man zum Beispiel, dass bestimmte Düfte Menschen zum Kaufen verleiten, das wurde durch Versuche herausgefunden und wird laufend angewendet. Kein Kunde wird darauf hingewiesen, dass das Kaufhaus, das er betritt, die Luft mit Duftessenzen anreichert oder bestimmte Musik spielt, um ihn in Kauflaune zu bringen."
Also woher die Aufregung? Erlinger vermutete, dass die Empörung deswegen so gewaltig aufgebrandet ist, weil es sich um ein wissenschaftliches Projekt gehandelt hat. Manipuliert zu werden ist eben nur halb sie schlimm wie erforscht zu werden!