Aus den Feuilletons

Urs Widmers traurige Leichtigkeit

Von Burkhard Müller-Ullrich · 03.04.2014
Alle Feuilletons nehemen unter anderem Abschied von dem Schriftsteller Urs Widmer. Richard Kämmerlings von der "Welt" traf ihn unlängst in Zürich und sprach mit ihm über den Tod - und warum der Schweizer schon an 2018 dachte. Außerdem geht es um Vergleiche zum russischen Präsidenten Wladimir Putin.
Alle Feuilletons nehmen Abschied von dem Schweizer Erzähler und Dramatiker Urs Widmer, der im Alter von 75 Jahren gestorben ist, und alle versuchen zu ergründen, wo er seinen ebenso verqueren wie robusten Humor her hatte und welche tiefe Melancholie er damit zu verbergen suchte. In der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG schreibt Joseph Hanimann, selbst Schweizer:
"Aus dem Werk dieses schwermütig heiteren Schweizers spricht die behäbige innere Unruhe zwischen ständig wechselnden Höhenpositionen. Ebenerdig, hochgebirgig, dialektal, universal, privatgeschichtlich, gesellschaftskritisch, bodenständig, luftversessen heißen die Koordinaten seines Schreibens."
Das klingt zwar einerseits nach Bewunderung für die damit angedeutete Vielseitigkeit, ist aber auch eine Art Eingeständnis des Autors, nicht zu wissen, wo und wie er Widmer denn nun einsortieren soll. Ähnlich hilflos zeigt sich Roman Bucheli in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG. Er verweist auf Widmers "produktive, aber nie epigonale Nähe zu Gottfried Keller und Robert Walser" und befindet:
"Die grimmige Komik Urs Widmers, seine überschießende Erzähllust und seine Vorliebe für das rustikale Vokabular, kurz: die Neigung zum Lauten ist (…) das genaue Abbild jenes inneren psychischen Überdrucks, dem dieses Werk seinen archaischen wie fantastischen Furor verdankt. Es ist ein in Sprache verwandelter Abwehrzauber gegen die Furien des Verschwindens."
Was hier mit den "Furien des Verschwindens", einer zwar vielzitierten weil toll klingenden, von Hegel aber ganz anders verwendeten Formulierung gemeint ist, bleibt allerdings unklar - vermutlich eine diffuse Traurigkeit über den Tod, mit dem sich Widmer in seiner fast unerträglichen Leichtigkeit auseinandergesetzt hat.
Richard Kämmerlings von der WELT kann das bezeugen. Er hat Widmer noch unlängst in Zürich besucht und mit ihm über den Tod gesprochen. Er nehme sich Claudio Abbado zum Vorbild, sagte Widmer ihm damals, der sei noch älter als er und mache dennoch Termine für 2018.
Zitat Widmer:
"Der sagt sich einfach: Wenn ich tot sein sollte, halte ich sie halt nicht ein."
Zitat Kämmerlings:
"Dass der Witz eine Beziehung zum Unbewussten hat, das Lachen eine Abwehr innerer Dämonen sein kann, wusste kaum jemand so gut wie Widmer, was sich sogar räumlich manifestierte: Direkt unter seinem winzigen Arbeitszimmer betreibt seine Frau eine psychoanalytische Praxis."
Und damit zum nächsten Thema.
Die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG bringt einen Text des in Berlin lebenden russischen Komponisten Sergej Newski, der die große politische Frage unserer Tage: "Was will Putin?" durch eine Beschreibung des russischen Zeitgeists beantwortet. Newski sieht dort aktuell einen "Aufstand des Archaischen", wie er es nennt, und er erklärt:
"Das Archaische und das Moderne, das Imperium und die Avantgarde waren in der Kultur des Landes schon immer tief miteinander verflochten. Vielleicht war es das Gleichgewicht zwischen diesen beiden Wertesystemen, das die Spezifik des Landes ausgemacht, ihm Wohlstand und eine gewisse Ruhe geschenkt hat."
Newski erinnert sich, wie er selbst noch vor kurzem als Künstler in Russland auf einer progressiven, europäischen, weltoffenen Welle geschwommen war und darüber die zutiefst konservative, archaische Seite verdrängt und ignoriert hatte. Jetzt kommt der von Putin organisierte und von der Mehrheit der Russen bejubelte Backlash - und da nützen die bei uns so beliebten stereotypen Schmähvergleiche mit Hitler, Stalin und wem noch alles gar nichts. Gustav Seibt schreibt dazu in der SÜDDEUTSCHEN:
"Personen zu analogisieren, ist ohnehin immer Unsinn. Kein Individuum tritt in der Weltgeschichte zweimal auf. Was sich sinnvoll vergleichen läßt, sind Herrschaftsformen und Situationen. Inzwischen ist auch der Vergleich Putin - Mussolini detailliert durchgeführt worden, weniger wegen der Äußerlichkeiten – virile Auftritte mit nacktem Oberkörper, nationaler Pomp in historischer Kulisse - als wegen einer gemeinsamen Konstellation: Autoritärer Führer macht nach einer historischen Enttäuschung Nationalitätenpolitik an seinen Landesgrenzen."
Vor allem, meint Gustav Seibt, handele es sich um eine Art Bonapartismus, denn eine neue Schicht von Besitzenden verlange in Rußland nach Ordnung, um ihr Raubgut zu legalisieren.