Aus den Feuilletons

Über russische Arithmetik

05:50 Minuten
Regisseur Kirill Serebrennikov sitzt mit Mund-Nase-Schutz im Gerichtssaal.
Regisseur Kirill Serebrennikov ist zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt worden. © Sergey Bobylev / Itar-Tass / imago-images
Von Tobias Wenzel |
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Die "FAS" widmet sich dem Urteil gegen den Regisseur Serebrennikow. Die Anklage hatte ihm vorgeworfen, ein gefördertes Stück nicht aufgeführt zu haben, obwohl es jahrelang gelaufen war. Nun muss er Geld zurückzahlen, das er nicht unterschlagen hat.
"'Ja. Ja. Ja. Ja', steht ausdrucksvoll auf dem blauen Kugelschreiber, den die Marketingabteilung des Frankfurter Schauspiels zu Beginn der diesjährigen Pressekonferenz austeilen lässt", berichtete Simon Strauß in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG. Die Theater präsentieren ihre neuen Programme mit, so Strauß, "größtmögliche[m] Optimismus".
Man könnte das vierfache "Ja" aber auch als Versuch der Selbstvergewisserung deuten. Die Feuilletons dieser Woche reichten jedenfalls von dieser Selbstvergewisserung bis zur mutwilligen Dummstellung beim Interpretieren von Text und Welt.

Ein politisch motivierter Prozess

Ein russisches Gericht hat den Regisseur Kirill Serebrennikow und Mitarbeiter von ihm zu mehrjährigen Gefängnisstrafen auf Bewährung verurteilt. "Dem Regisseur und seinen Kollegen wurde vorgeworfen, umgerechnet circa 1,6 Millionen Euro staatlicher Fördergelder für das Experimentaltheater 'Platforma' unterschlagen zu haben", fasst Nikolai Klimeniouk in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN SONNTAGSZEITUNG den Hintergrund dieses offensichtlich politisch motivierten Prozesses zusammen.
"Es wäre so, als hätte das gefeierte Kulturprojekt nur auf dem Papier stattgefunden. Die Anklage behauptete tatsächlich, dass ein Stück, Shakespeares 'Ein Sommernachtstraum', das mehrere Jahre mit großem Erfolg lief, nie aufgeführt worden sei." Der Regisseur und sein Team müssen nun aber zurückzahlen, was sie nie unterschlagen haben. Klimeniouk nennt das "russische Arithmetik".
Man könnte auch von einem "taktischen Missverständnis" sprechen oder von einer "mutwilligen Dummstellung". Genau das warfen David Hugendick und Johannes Schneider von ZEIT ONLINE auch dem Bundesinnenminister Horst Seehofer vor.

Der Rückzieher von Horst Seehofer

Der hatte angekündigt, Anzeige gegen die Autorin Hengameh Yaghoobifarah zu erstatten. Die wiederum hatte im Zuge der Rassismus-Debatte in einer satirischen Kolumne für die TAZ darüber nachgedacht, welchen Beruf Polizisten ausüben könnten, wenn man die Polizei abschaffte, aber der Kapitalismus bestehen bliebe, und geschrieben:
"Spontan fällt mir nur eine geeignete Option ein: die Mülldeponie. Nicht als Müllmenschen mit Schlüsseln zu Häusern, sondern auf der Halde, wo sie wirklich nur von Abfall umgeben sind. Unter ihresgleichen fühlen sie sich bestimmt auch selber am wohlsten." Das wirkt erst einmal nur geschmacklos und menschenverachtend. Allerdings sei es nicht zulässig, so die beiden Autoren von ZEIT ONLINE, das losgelöst vom Kontext zu deuten.
Die Autorin wende nämlich in ihrem Gedankenexperiment die auf Rassismus basierende "Verdachts- und Profilingmechanik" einiger Polizisten gegen die Polizei: "Aus den Enthüllungen über einzelne Polizisten und Sondereinheitsstrukturen strickt sie satirisch einen Generalverdacht in Bezug auf den sehr unsatirischen, sehr realen Generalverdacht, dem Migranten und manche Minderheiten oft von der Polizei unterworfen werden." Wer diesen Kontext und diese Ebene ausblende, begehe ein taktisches Missverständnis. Ein allzu offensichtliches.
Weshalb Horst Seehofer wohl schließlich erklärte, er wolle die TAZ-Autorin nun doch nicht anzeigen. "Was außer Geschmacklosigkeit und einer gewissen Menschenverachtung, die nicht strafbar ist, wäre denn der Grund der Klage gewesen?", fragt nun Claudius Seidl in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN SONNTAGSZEITUNG, teilt aber auch in eine andere Richtung aus:
"Dass die Pressefreiheit trotzdem in Gefahr gewesen sei, war ein paar Tage die etwas weinerliche Angst all jener, die offenbar tatsächlich glauben, dass deutsche Gerichte die Klage eines Ministers strenger verfolgen würden als die eines ganz normalen Bürgers". Anders gesagt: In Deutschland herrscht noch keine russische Arithmetik.

Die Überschätzung der Macht der Sprache

Wie aber geht man angemessen mit dem Thema Rassismus um? Und wie mit dem Wort "Rasse"? "Wir haben uns eingebildet, wenn wir das Wort 'Rasse' abschaffen, dann gibt es auch die Sache nicht mehr. Das ist eine Überschätzung der Sprache", sagte der Historiker Wolfgang Reinhard im Gespräch mit der FAZ. "Man kann die Dinge nicht abschaffen, bloß, weil man sie begrifflich entsorgt."
Man kann nicht Rassismus abschaffen, bloß, weil man Denkmäler von Rassisten entsorgt, las man aus Dankwart Guratzschs Artikel für die WELT heraus: "Die wirksamste, dauerhafteste Korrektur der Überlieferung leistet die Geschichte selbst", schrieb er. "Während die stehen gebliebenen Monumente in ihrem Heroismus und martialischen Gestus immer komischere, zeitfremdere Züge einnehmen, bleiben die beseitigten wie Untote lebendig." Guratzsch kritisierte die "Bereinigungsraserei" unserer Zeit.
"Bilderstürmerei" führe "nie zur Aufklärung". Auch wenn das diejenigen glauben, die sich mit solchen Aktionen ihrer selbst vergewissern. Manchmal trügt eben die Wahrnehmung. Daran erinnerte der Philosoph Ivan Krastev im Gespräch mit dem SPIEGEL, in dem er auf ein psychologisches Experiment verwies: "Man zeigt Probanden Zeichnungen von Katzen, ganz viele und ganz schnell." Auf die Frage, was sie sähen, würden sie immer wieder "Katzen" sagen. "Dann werden ein paar Zeichnungen von Hunden dazugemischt, aber die Probanden glauben trotzdem, nur Katzen zu sehen." Katzen, Katzen, Katzen, Katzen.
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