Aus den Feuilletons

Über gesprochenen Fußball

Eden Hazard nach seinem 2:0-Treffer im WM-Spiel um Platz 3 gegen England.
Eden Hazard nach seinem 2:0-Treffer im WM-Spiel um Platz 3: Belgien gegen England. © picture alliance/Alexander Demianchuk/TASS/dpa
Von Ulrike Timm · 14.07.2018
Die Feuilletons der Woche beschäftigten sich linguistisch und philosophisch mit dem Phänomen Fußball, außerdem mit dem 150. Geburtstag von Stefan George und dem überraschenden Tod von Christine Nöstlinger.
"Wer die Sprache des Fußballs nicht beherrscht, versteht weder Angela Merkel noch Mesut Özil." Michael Pilz setzt in der WELT zur Steilvorlage an und erteilt uns eine Lektion in Linguistik zur WM:
"Alles, was die Sprache kann, findet sich im gesprochenen Fußball wieder. Im gesprochenen Fußball gibt es weder An- noch Abpfiff. Das Geschwätz ist immer da. Sami Khediras Defizite, Mesut Özils Ballverluste, Manuel Neuers Mittelfuß, Mats Hummels‘ Machtwort, Ilkay Gündogans Patriotismus, Jogi Löws Pullover. Ohne Fußball wäre es sehr still im Land" meint der Autor und nimmt uns mit auf eine sportliche Sprachreise von Angela Merkels Parteitagsreden über den Management-Sprech – "Es geht um Schnittstellen, Polyvalenzen und Optionen. Weil auch Fußball ein Geschäft ist, spielen Unternehmen, die gut aufgestellt sind, in der Champions League." – bis hin zu Sprachbildern aus dem Kulturbetrieb, wenn Fußballer zu Stehgeigern und Regisseuren werden, sich vor ausverkauftem Hause gegenseitig austanzen, den Takt vorgeben und das Spiel lesen."

Fußballphilosophische Überlegungen

So liefert die WELT einen ganzen Steinbruch von der Fußball- bis zur Lebensweisheit. "Und manchmal wird es zur reinen Sprache, die den Sinn nur in sich selbst sucht wie ein Übersteiger von Neymar im Mittelfeld: Im Fußball setzt sich der Mensch willentlich Situationen aus, die er nicht mehr kontrollieren kann. Das, was Philosophen Kontingenz oder Zufall nennen, wird im Fußball gefeiert.
Das ist auch ein ethisches Statement: die Bejahung des Unverfügbaren". Dieses eigensinnige Dribbling stammt vom Philosophen Wolfram Eilenberger. Wir kontern es flugs mit einer hemdsärmeligen Aufmunterung, gefunden in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG: "Häng nicht so rum!" Ok, da geht es eigentlich um "Cliffhänger" bei Serien, aber man kann ja für den Moment auch mal eine Flapsigkeit von der Film- in die Fußballersprache überführen.

Stefan George: Skandal- und Rätselfigur

Stefan George wäre allerdings bei solcher Wortwahl das starre Gesicht wohl noch weiter erstarrt, er liebte eher den raunenden Ton. Zum 150. Geburtstag suchten alle Feuilletons nach Worten für den Dichter, der laut Süddeutscher Zeitung "den Zeitgenossen ein Rätsel, für die Nachwelt ein Skandal war".
Stefan George gruppierte einen Kreis von Jüngern um sich, die er auch zu beherrschen suchte, und sah in seinem Kreis eine Art gegenmoderner Elite. Seine Anhänger wollten in seinem Sinne weiterwirken, und was die ZEIT mit "großes Abrakadabra im zweiten Stock" umschreibt, meint den Missbrauch von Seelen und von Körpern.
Das zeitgenössische Porträt zeigt den deutschen Dichter Stefan George (1863-1933), Preisträger des Goethe-Preises der Stadt Frankfurt am Main im Jahr 1927. | Verwendung weltweit
Laut "Süddeutscher Zeitung" war Stefan George "den Zeitgenossen ein Rätsel, für die Nachwelt ein Skandal".© dpa / picture-alliance
Der TAGESSPIEGEL findet in Georges Gedichten "wahre Wunder an Bild und Klang" und fragt zugleich: "Wo liegen die Grenzen zwischen Pädagogik, Eros und Kriminalität?" Nur Matthias Heine in der WELT bezieht eindeutig Position: "Meistergedichte", und weiter:
"Vergesst die Fotos, auf denen George aussieht wie eine alte Frau im Anzug, die starr ihre Schokoladenseite zeigt, ignoriert die Priesterpose. Vergesst vor allem den George-Kreis! Ignoriert das viertel-, halb- und ganz schwule Getue, lasst Euch nicht abschrecken von den Zickenkriegen des Männerbundes!" Wer das kann, findet eine Sprache, an der man sich mit Wonne betrinken kann. Wer das nicht kann oder nicht möchte, dem bleibt Stefan George wohl weiterhin fremd.
Die österreichische Kinderbuchautorin Christine Nöstlinger.
Die österreichische Kinderbuchautorin Christine Nöstlinger ist im Alter von 81 Jahren gestorben.© imago stock&people
Garantiert unverschwurbelt lebte und schrieb die österreichische Kinderbuchautorin Christine Nöstlinger, sie ist, wie erst jetzt bekannt wurde, Ende Juni mit 81 Jahren gestorben ist. "Ich habe gewisse Vermutungen darüber, was Kinder lesen wollen, und gewisse Vermutungen, was Kinder lesen sollten. Und dann habe ich noch das dringende Bedürfnis, mir gewisse Dinge von der Seele zu schreiben.
Und die feste Überzeugung, dass Kinder beim Lesen gern lachen, die habe ich auch. Aus diesen vier Komponenten mische ich üblicherweise meine Bücher zusammen." So zitiert die WELT noch einmal das Selbstverständnis von Nöstlingers Schreiben. Mit "Maikäfer flieg" oder "Wir pfeifen auf den Gurkenkönig" schuf sie Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur.

Empathie im Gewande der Unsentimentalität

"Frecher als alle anderen", so überschreibt Thomas Mießgang für ZEIT ONLINE seinen Nachruf auf die Autorin: "Nöstlinger brachte einen neuen Sound in die Jugendliteratur: eine fast hemingwaysche Lakonik, eine Empathie im Gewande der Unsentimentalität, und eine Weisheit, die nie den Horizont der jugendlichen Erzähler ihrer Geschichten überstieg und die trotzdem durchblicken ließ, dass es noch eine riesige Welt der Magie, aber auch des Grauens jenseits der Wahrnehmungsmöglichkeiten der Adoleszenz gibt."

Wer Christine Nöstlinger liest, kann nicht brav sein

Jürgen Kaube berichtet für die FAS sehr persönlich aus seinem Familienleben, um Christine Nöstlingers Werk zu würdigen, Zitat: "Wenn ein Kind, das zwölf Jahre alt ist, nach einem Buch verlangt, das es schon einmal, als es acht Jahre alt war, gelesen hatte – mehr Lob für ein Buch ist kaum möglich. "Gretchen, mein Mädchen" heißt das Buch, dem das vor wenigen Wochen bei uns zu Hause widerfuhr."
Und Cornelia Geissler meint in der Frankfurter Rundschau, wer Christine Nöstlinger lese, könne nicht brav sein. In gewissem Maße vernünftig schon, aber nicht brav. "Wer etwa ‚Wir pfeifen auf den Gurkenkönig‘ gelesen hat, betrachtet auch erwachsen noch Kartoffeln mit Keimspitzen mit einigem Unbehagen, hat doch der Diktator im Keller stets nach diesen verlangt und dabei versucht, sich eine Familie so zum Untertan zu machen, wie es Despoten auch mit Völkern tun."
Buch-Cover von Christine Nöstlingers "Wir pfeifen auf den Gurkenkönig". Rowohlt Verlag
Buch-Cover von Christine Nöstlingers "Wir pfeifen auf den Gurkenkönig". Rowohlt Verlag© Rowohlt Verlag
Vielleicht wäre es die schönste Würdigung Christine Nöstlingers, wenn wir den uns begegnenden Gurkenkönigen erst kräftig Paroli geben und dann ebenso bestimmt auf sie pfeifen würden!
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