Aus den Feuilletons

Über den "Niveaunullpunkt" im US-Wahlkampf

Demonstranten vor der Great Faith Ministries Kirchengemeinde in Detroit. Ihr Protest richtet sich gegen den republikanischen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump, der am 3.9.2016 in der Kirche spricht. Er verspricht den Afroamerikanern mehr Wohlstand und Jobs.
Demonstranten vor einem Wahlkampf-Auftritt von Donald Trump in Detroit; Aufnahme vom 3. September 2016 © AFP /Jeff Kowalsky
Von Ulrike Timm · 31.10.2016
Für Dietmar Dath ist der US-amerikanische Wahlkampf zu einer "Inhaltszerstörungsmaschine" geworden. Auf allen Seiten würden lediglich Sprüche geklopft, stellt er in der "FAZ" fest. Das Zusammenspiel von Legislative, Exekutive und Judikative gerate auch in anderen Demokratien aus dem Blick.
Post von Friedrich Engels an Karl Marx, 1846: "‘Hast Du schon gehört, in Schleswig-Holstein haben sie ein bescheuertes Lied erfunden.‘". Mit dem "bescheuerten Lied" ist die Schleswig-Holstein-Hymne gemeint. Das Lied sei "so schlecht", "dass es nur wert sei, von blöden Dithmarschern gesungen zu werden."
TAZ-Lesen bildet! Eine komplette Seite gibt es heute, um zwei schwer verdauliche Hymnen - die von Schleswig-Holstein und die von Niedersachsen nämlich - sprachlich aufzudröseln und auf historischen Kontext wie Gegenwartsbezug hin zu untersuchen. All das in zwei ausführlichen Interviews mit dem Lektor des Nordfriesischen Instituts in Bredstedt und dem ehrenamtlichen Archivar des Landesverbandes der Feuerwehr Niedersachsen. Einfach wunderbar. Die Post von Engels an Marx ist übrigens nur sinngemäß zitiert – sie müssen also nicht in den Briefen der beiden linken Granden nach dem Wort "bescheuert" suchen. Warum all das? Die Begründung findet sich in einer winzigen Zeile, diagonal mit Abwärtsdrift gesetzt: "Heute feiert Niedersachsen 70. Geburtstag" - Ach so. Wie gesagt: TAZ-Lesen bildet.
Wer sich lieber an aktuellem Zeitgeschehen abarbeitet, findet in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN einen klug-bitterbösen Essay von Dietmar Dath, der sich auf die Suche nach dem "Niveaunullpunkt" des amerikanischen Wahlkampfes gemacht hat. Er hat ihn für sich auch gefunden. Nicht bei Trump und nicht bei Clinton übrigens. Gut geschrieben und niederschmetternd zu lesen - "Che Guevara heißt jetzt Harry Potter", so überschreibt die FAZ eine Zeitdiagnose, die über das USA-Wahlkampfszenario auch hinausgeht und in Teilen übertragbar ist.
Wirkliches politisches Handeln – so ein Tenor bei Dath – findet auch deshalb so selten statt, weil vielfach eben gar kein echtes Interesse mehr besteht an den Funktionszusammenhängen von Legislative, Exekutive und Judikative. Also daran, wie man politische Vorhaben auf dem Boden einer demokratischen Ordnung tatsächlich umsetzt. Stattdessen Sprüche, die nicht mal mehr abgeklopft werden – auf allen Seiten. Der Wahlkampf in den USA jedenfalls ist für Dath zu einer "Inhaltszerstörungsmaschine" geworden. Anstrengende Kost, aber lohnend zu lesen.
Um der Laune wieder aufzuhelfen, widmen wir uns einigen der heute ziemlich zahlreichen Artikeln, die sich mit Musik beschäftigen, es werden nämlich nicht nur norddeutsche Hymnen gesungen. Die TAZ begeistert sich zusätzlich für das das neue Album von Leonard Cohen, eine
"Dankesbezeugung für ein bis zum Äußersten ausgekostetes Leben (…).das auch noch weitergeht, wenn man, wie Leonard Cohen, die Phase, in der man alt und weise werden kann, schon hinter sich gebracht hat und mit seiner Musik einfach immer weiter macht." Cohen ist mittlerweile 82.
Deutlich jüngere Musiker besteigen in voller Konzertmontur die Zahnradbahn auf den Pilatus-Berg in der Schweiz, um ganz oben für treue Fans und neugierige Steinböcke Kammermusik zu machen. Das hat der TAGESSPIEGEL beobachtet. Höchste Töne sozusagen, der Flügel kommt geflogen, ein Hubschrauber setzt ihn auf dem Gipfel ab. Wo die Musik dann auch nicht so viel anders klingt als im Tal - aber das Foto vom fliegenden Flügel ist großartig.
Der Schriftsteller Günter de Bruyn hat sich in den letzten zehn, zwanzig Jahren liebevoll-akribisch den Ebenen gewidmet und mit zahlreichen Büchern der brandenburgischen Landschaft wie ihrer Kulturgeschichte Denkmäler gesetzt. Er feiert seinen 90. Geburtstag.
TAGESSPIEGEL und FAZ gratulieren de Bruyn, der als Romancier wie erzählender Sachbuchautor "einen verblüffenden Altersstil entwickelt" habe. Tilman Spreckselsen formuliert es in der FAZ so: Günter de Bruyn pflege eine Sprache, die sagt:
"Seid ihr nur laut, ich bin gründlich, und wenn ihr schrill seid, bin ich geschmeidig, und wo es euch nur um euch selbst geht, bin ich der Sache verpflichtet."
Was für ein schönes Kompliment für einen so eleganten wie redlichen Autor – Günter de Bruyn wird 90, Glückwunsch!
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