Aus den Feuilletons

"Totaler Irrsinn, überall"

Von Tobias Wenzel · 17.09.2016
Der Maler Neo Rauch beobachtet seit Jahren "ein Anbranden des Irrationalismus". In einem Interview erklärt er nun, dass sich daraus ein Generalangriff auf die Aufklärung entwickelt habe. Zum Beispiel im US-Wahlkampf und in der Türkei.
"Als Maler ist man ein Mensch mit einer besonders feinen Witterung für das Nachzittern oder das Vorzittern von unguten Ereignissen",
erklärt Neo Rauch im Gespräch mit Ulrike Knöfel vom SPIEGEL. Schon lange, schon "unmittelbar nach der Wende" habe Rauch etwas kommen sehen, was er "ein Anbranden des Irrationalismus" nennt oder auch einen "Generalangriff auf die Aufklärung".
"Totaler Irrsinn, überall. Der komplette unverhüllte, unmaskierte Irrsinn",
sagt der Maler.
"Ich als Romantiker möchte jetzt wieder in das Lager der Aufklärung wechseln, da ich feststelle, dass dort offenbar ein Personalmangel herrscht."
Irrsinn und Irrationalismus und der aufklärerische Einsatz dagegen bestimmten überhaupt die Themen dieser Feuilletonwoche. Gavin Bowd, britischer Freund und Übersetzer des französischen Schriftstellers Michel Houellebecq, zitierte ihn in einem Sachbuch mit den Worten:
"Der Front National ist keine rechtsextreme Partei."
Darüber berichtete wiederum Niklas Bender in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG. 2013, bei einem privaten Essen in Paris, soll Houellebecq auch gesagt haben:
"Ich werde ein Interview geben, in dem ich zum Bürgerkrieg aufrufe, um den Islam in Frankreich zu vernichten. Ich werde dazu aufrufen, Marine Le Pen zu wählen!"

Reichlich Absinth getrunken?

Das ist in der Tat irrsinnig. Allerdings hatte der französische Autor bei besagtem Abendessen auch reichlich Absinth getrunken.
Dass übermäßiger Alkoholkonsum seinen Verstand in die düsteren Abgründe des Irrationalen reißt, mag man sich beim Papst a.D. Joseph Ratzinger nicht vorstellen.
"Er hatte nicht die Größe, einfach zu schweigen",
schrieb Philipp Gessler in der TAZ über "Letzte Gespräche", ein Buch, in dem der Journalist Peter Seewald den zurückgetretenen Papst interviewt.
"Hoffentlich ist es wirklich sein letztes Buch."
Denn darin suggeriere Ratzinger, seine Meinung sei, zum Beispiel im Gegensatz zu der von Reformtheologen, nichts als die Wahrheit.
"[ ... ] das Buch liefert so viele Verklärungen, Ärgernisse, Frechheiten, ja Fiesheiten, dass man es schon nach kurzem Überfliegen am liebsten in die Ecke pfeffern möchte",
empörte sich der Rezensent.

Ratzinger - einer, der verklärt

Ratzinger erweise sich hier als ein "stellenweise ziemlich eitler, nachtragender und verbitterter Kirchenopa". Einer, der eben nicht auf-, sondern verklärt.
Als irrsinnig hat die Mehrheit der Tänzer beim Berliner Staatsballett die Entscheidung des Berliner Kulturstaatssekretärs Tim Renner empfunden, Sasha Waltz zur Co-Intendantin des Hauses zu ernennen.
"So wird die Kompanie niemals bedeutend werden",
kritisierte Manuel Brug in der WELT die Ernennung. Das sei, wie wenn man einen "Tennis-Trainer zu einem Fußball-Trainer" mache, schrieben die protestierenden Tänzer. "Das ist insofern nicht ganz falsch", kommentierte Christine Lemke-Matwey in der ZEIT, "als Ballett und Tanztheater zwei ziemlich verschiedene Paar Schuhe sind." Die Ungewollte, Sasha Waltz, sieht das im neuen SPIEGEL anders.
"Ich habe mein ganzes Leben im Tanz verbracht",
sagt sie. Ist Tanz also doch gleich Tanz?

"Völkisch" - die "aggressive Schwester des Nationalen"

"Völkisch" ist jedenfalls nicht gleich "national", auch wenn das Frauke Petry vielleicht lieb wäre. Gustav Seibt nimmt die neue Lust der AfD-Vorsitzenden am Völkischen als Anlass für eine Begriffskunde in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG:
"'Völkisch' nämlich ist, Rasse hin, Volk her, nur die kleine aggressive Schwester des Nationalen, dessen ewige schlechtere Möglichkeit."
Frauke Petry verabschiede mit ihrer Äußerung "einige der besten Teile der deutschen Tradition":
"Diese erfand in Aufklärung und Historismus die Liebe zum eigenen Volk in enger Verbindung mit der Hochschätzung aller anderen Völker. [ ... ] So wirkt es nur komisch, wenn der AfD-Redner Bernd Höcke auf dem Magdeburger Domplatz 'Geschichte atmet' und den seit 1043 Jahren toten Otto den Großen duzt: 'Otto, ich grüße dich!' [ ... ] Der mittelalterliche Herrscher nämlich verstand sich als Römischer Kaiser, der nichts Besseres zu tun fand, als seinen Sohn mit einer byzantinischen Prinzessin zu verheiraten."
Analysierte ganz im Sinne der Aufklärung Gustav Seibt in der SZ.
Manchmal kann das Irrationale aber auch produktiv sein. In der Kunst zum Beispiel. Andreas Kilb berichtete in der FAZ über "The Woman Who Left", den Film des Philippiners Lav Diaz, für den der Regisseur den Goldenen Löwen in Venedig bekommen hatte:
"Mit seinen fast vier Stunden Länge, seinem gestauchten Bildformat und seinen überscharfen, tiefenlosen digitalen Schwarzweißbildern macht er es dem Zuschauer schwer, der Geschichte von der geduldigen Rache einer zu Unrecht verurteilten Frau an ihrem Exliebhaber zu folgen, die er erzählt. Aber am Ende hat man dennoch das Gefühl, dass diese Geschichte nur so und nicht anders erzählt werden konnte."
Wenig verstanden, aber trotzdem beeindruckend also.
Elisabeth von Thadden ging in der ZEIT sogar noch einen Schritt weiter. Das Irrationale könne vielleicht auch in der Politik Gutes bewirkt haben. Ausgehend von Hillary Clintons vermutlich gar nicht so besorgniserregendem Gesundheitszustand, den das Trump-Lager zum Thema gemacht hatte, blickte Elisabeth von Thadden zurück in die Geschichte der US-amerikanischen Präsidenten und recherchierte deren gesundheitliche Verfassungen. Die Journalistin fand einiges, von Erbkrankheiten bis Schlaganfällen, zu Amtszeiten alle verschwiegen. Und über John F. Kennedy bemerkte sie:
"Kennedy stand unter so schweren Medikamenten, dass man seine politische Kunst im Grunde darauf zurückführen müsste, dass JFK nie ganz bei Sinnen war."
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