Aus den Feuilletons

Streiten über die Deutung der Vergangenheit

04:22 Minuten
Ein Mann mit roter Jacke steht auf einer Stele am Holocaust-Mahnmal in Berlin
Die Aufarbeitung des Nationalsozialismus sei im Osten von oben, im Westen von unten gemacht worden, schreibt Susan Neiman in der "Zeit". © imago images / photothek.net / Florian Gaertner
Von Arno Orzessek · 04.03.2020
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Kein anderes Land der Welt habe sich der Vergangenheit so gut gestellt wie Deutschland, schreibt die "Zeit". Und das, obwohl der Osten und Westen des Landes die "richtige" Aufarbeitung des Landes jeweils für sich beanspruchten.
Im Vorblick auf den Internationalen Frauentag am kommenden Sonntag erscheint in der Wochenzeitung DER FREITAG "ein Text gegen die Maulsperre für Vulvalippen".
"Ich habe viel Sex. Ich bin Feministin. Beides zusammen ist oft nicht leicht zu vereinbaren", beklagt Kathrin Weßling. Die nach der Erläuterung ihrer Skrupel angesichts des Themas und ihrer Sexpraktiken in vielen Betten Berlins mit den Worten schließt: "Ich weiß nur, wie viel Angst ich habe, diesen Text abzuschicken. Und dass genau das bedeutet, dass wir noch ganz, ganz, ganz am Anfang stehen."
Kathrin Weßling unter der hochgradig bewusst gewählten Überschrift: "Ich, die Schlampe."
Nebenstehend: Das Interview "Spritzen wie eine Frau", in dem DER FREITAG mit der Kulturwissenschaftlerin Stephanie Haerdle über weibliche Ejakulation spricht. Und dem eigenen Vorsatz auf der Seite "Wochenthema" umso gerechter wird: "Ihr Ding ist größer. Weibliche Lust war lange tabu. Sprechen wir darüber!" Sprechen wir hier nun über anderes.

Begeisterung für einen potentiellen Kultroman

"Das absolute Jetzt" betitelt die Wochenzeitung DIE ZEIT ihre Rezension von Leif Randts Roman "Allegro Pastell", den Ijoma Mangold toll findet.
"Manchmal fühlt man sich bei der Lektüre geblendet, als schaute man ohne Sonnenbrille direkt ins Licht der Gegenwart. Aber während sonst Romane, die dieses Gefühl von Zeitgenossenschaft und cutting edge vermitteln, meist wie ein Kommentar zur Gegenwart funktionieren, ist bei Leif Randt die ganze Zeitgeist-Diagnose Form geworden."
Komplett hingerissen verfällt der ZEIT-Autor Mangold aufs Spekulieren und Fabulieren – was nicht unbedingt für ihn, aber womöglich für Randts Roman spricht.
"Von diesem Buch könnte eine neue Jugendbewegung ausgehen. Sie würde die erste sein, die den Fetisch der Unmittelbarkeit durch ein Konzept reflexiver Hipness ersetzt. Allegro Pastell ist definitiv eines der wichtigsten Bücher der deutschen Gegenwartsliteratur seit Christian Krachts Faserland. Kein Millennial wird künftig einen Roman schreiben können, ohne sich zu Allegro Pastell zu verhalten."
Sich sehr weit aus dem Fenster lehnend: Ijoma Mangold in der ZEIT.

Richter in New York

"Gegen das Verstehen" hat die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG nichts einzuwenden, überschreibt mit selbigen Worten jedoch ihre Kritik der Gerhard-Richter-Ausstellung in New York.
Sie mündet in einem Raum, der allein Richters Birkenau-Zyklus von 2014 gewidmet ist.
"Es entsteht der Eindruck [so Sebastian Moll], als wären die gesamten 60 Jahre seines Schaffens auf diesen Moment zugelaufen, in dem sich diese Malerei direkt mit einem Motiv des Holocaust befasst. Dabei ist, nach den Kontroversen um die Birkenau-Arbeit in Deutschland, auf die Präsentation allergrößte Sorgfalt verwendet worden. Richter und die Kuratoren haben gleich mehrere Sicherheitsstufen eingebaut, um Vorwürfen der Spektakularisierung zu entgehen."

Vergangenheitsbewältigung Ost und West

Sich richtig erinnern, darauf versteht man sich laut der ZEIT in Deutschland gut: "Trotz Hanau – kein anderes Land der Welt hat sich seiner Vergangenheit so ermutigend gestellt", meint die Philosophin Susan Neiman, die auch die innerdeutsche Situation bedenkt.
"Nichts provoziert den Widerstreit zwischen Ost und West wie der Vorwurf, die andere Seite führe das Schlimmste aus dem Nazi-Erbe ununterbrochen fort. Wenn ich darauf bestehe, dass der Antifaschismus der DDR ein aufrichtiger Versuch war, die Nazi-Zeit aufzuarbeiten, will ich nicht behaupten, dieser Weg sei makellos gewesen. Lieber sollten wir die Mängel vergleichen: Während die Aufarbeitung im Osten von oben kam, musste im Westen im Nachgang von unten gemacht werden, was von oben fehlte."
Susan Neimans Aufsatz erscheint in der ZEIT-Rubrik "Rede – Gegenrede". Und in der Gegenrede widerspricht Micha Brumlik Neimanns These vom aufrichtigen "Antifaschismus in der DDR" klipp und klar: "In der DDR wurde die NS-Zeit verdrängt."
Um Vergangenheitsvergegenwärtigung geht es übrigens auch der Tageszeitung DIE WELT. Sie fordert: "Wir brauchen ein Luftkriegsmuseum".
Damit zum Letzten. Standardmäßig beschließen wir unsere Presseschau mit einem griffigen Titel. Und insofern ist das, was Sie gleich kurz hören werden – mit einer Überschrift der TAGESZEITUNG:
"Die Stille nach dem Standardsatz."
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