Aus den Feuilletons

Stillose Stilkritik

Annalena Baerbock, die Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, und Robert Habeck, Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen, sitzen beim digitalen Bundesparteitag der Grünen gemeinsam im sogenannten Wohnzimmer.
Annalena Baerbock und Robert Habeck, die Vorsitzenden von den Grünen, schauen angespannt. Liegt das am Kotbraun der Wand im Hintergrund? © picture alliance/ dpa/ Kay Nietfeld
Von Gregor Sander |
Die "FAZ" hat am digitalen Parteitag der Grünen etwas auszusetzen: Sie stört die "unruhig wirkende Wischtechnik der Wände in Kotbraun". Was das Bühnenbild des Parteitags aber mit "Ostberliner WGs" zu tun haben soll, lässt sie leider unbeantwortet.
"Die Menschen sterben und sind nicht glücklich." Dieses Albert-Camus-Zitat steht über einer Kritik in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG. Thomas Steinfeld nutzt es zur Besprechung von Essays, die Jan Philipp Reemtsma unter dem Titel "Helden und andere Probleme" veröffentlicht hat. Allein vier Aufsätze behandeln das Thema Gewalt:
"Einen ‚blinden Fleck‘ stellt die Gewalt dar, weil die Vorstellung, die Menschheit gehe immer weniger gewalttätigen Zeiten entgegen, ebenso beliebt wie falsch ist. Und ‚attraktiv‘ ist die Gewalt insofern, als nicht wenige Gewalttäter ihre Taten offenbar genießen", so Steinfeld über Reemtsma, dessen Buch er attestiert: "Klug, gelehrt und unerbittlich sind diese Essays. Manchmal sind sie bedrückend, immer aber erhellend."

"Er verzichtet auf Rotwein"

Licht ins Dunkle will auch die Tageszeitung DIE WELT bringen und Jan Grossrath überschreibt sein Aufmacher-Interview so: "Der Philosoph Lars Distelhorst weiß, was unserer Gesellschaft fehlt, warum rechts sein so müde macht und für welche Ideologie Menschen noch zu sterben bereit sind. Ein Gespräch mit einem Linken."
Wer diese Ankündigung schon merkwürdig findet, für den kommt es in der genaueren Vorstellung des Potsdamer Professors für Sozialwissenschaft noch merkwürdiger: "Er verzichtet auf Rotwein. Distelhorst ist der erste Akademiker aus seiner westfälischen Arbeiterfamilie."
Während man noch darüber nachdenkt, ob alle Interviewgäste bei der WELT Rotwein angeboten bekommen und nur die westfälischen Arbeiterkinder ablehnen, erklärt Lars Diestelhorst schon mal die Mühsal des Rechtsseins: "Ich denke nicht, dass sich das Spannungslevel, das so ein Rechter hat, gut anfühlt. Wenn man ständig mit diesen Aggressionen durch die Welt läuft, das stelle ich mir sehr anstrengend vor."
Allerdings, so der Professor, den radikalen Linken ginge es auch nicht besser: "Ich habe eher das Gefühl, dass das, was sich radikale Linke nennt, auch zu einer Lifestyle-Bewegung verkommen ist. Mit eigenem Dresscode, eigenem Moralcode und harten Ein- und Ausschlussmechanismen. Aber es ist ja nicht die radikale Linke, die gegenwärtig 25 Prozent bei Wahlen im Osten abräumt", so Diestelhorst.
Das stimmt natürlich, trotzdem sei hier noch einmal an die 15 Prozent für die AfD bei der letzten Landtagswahl in Baden-Württemberg erinnert, was auch ganz schön viel ist für ein Bundesland, das ja nun wieder ganz schön weit im Südwesten liegt. Manchmal ist es verzwickt mit den Vorurteilen.

Kotbraune Wände

Selbst in einer Stilkritik des Bühnenbildes beim digitalen Parteitag der Grünen in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG. Der Autor mit dem Kürzel S.T. beschreibt das, was da hinter Habeck und Baerbock zu sehen war, so: "Die sehr unruhig wirkende Wischtechnik der Wände in Kotbraun hinter den beiden Vorsitzenden dürfte selbst in komplett verarmten Ostberliner WGs nicht mehr zum Einsatz kommen."
Nun wüsste man wiederum zu gern, wer genau im Vorurteil des Autors in diesen komplett verarmten Ostberliner WGs mit den kotbraunen Wänden wohnt!
Ganz viel Realität gibt es dafür in der TAZ: "Die Youtube-Serie ‚Jugendland‘ porträtiert junge Erwachsene im ländlichen Raum in Niedersachsen", schreibt Erica Zingher und fragt sich: "Wie ist es, dort zu leben, wo viele eigentlich nur wegwollen?" Die vom NDR produzierte Serie beobachtet dagebliebene 18- bis 20-Jährige aus Uetze, Eicklingen und Lachendorf bei der Suche nach einer Lehrstelle oder einer Hebamme.

Kunst als Selbstbestätigung

Wem das zu viel Realität ist, der kann sich vielleicht in die Musik flüchten, aber: "Streamingdienste wie Spotify erstellen Playlists und arbeiten mit personalisierten Nutzerdaten. Das hat Folgen für unsere Geschmacksbildung", warnt Rasmus Peters in der FAZ vor Playlists wie etwa "Dein Mix der Woche", denn: "Aus dieser Musikrezeption erblüht eine Meinungsästhetik, nach der sich alles nur noch subjektiv bemisst. Kunst wird zur Selbstbestätigung ihrer Rezipienten."
Und von hier ist es dann nicht mehr weit zum Camus-Zitat vom Anfang: "Die Menschen sterben und sind nicht glücklich"
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