Aus den Feuilletons

Starren auf Coronazahlen

04:22 Minuten
Coronazahlen
Viele Zahlen bilden das Infektionsgeschehen ab, aber nur die der Impfstoffe könne Erlösung bringen, schreibt Hannes Soltau im "Tagesspiegel". © Unsplash / James Yarema
Von Ulrike Timm · 26.11.2020
Audio herunterladen
Mit vielen Zahlen wird die Coronapandemie hierzulande vermessen. Dabei entscheide sich die morgendliche Paranoia beim Blick auf die neuesten Werte nur an einer Zahl, schreibt der "Tagesspiegel": der, der wirksamen Impfstoffe.
548748978 – alles ganz eng geschrieben, in der Titelzeile des TAGESSPIEGELs, neun Ziffern lassen sich mühsam nachzählen. Davor gab es – zum Üben – schon sieben, auch eng geschrieben 4986489.

Von guten und bösen Zahlen

Aha: 4 986 489, wer Lücken schafft, kriegt Übersicht – aber so wie gedruckt sieht diese Titelzeile schlimmer aus als eine IBAN fürs Konto - und was soll das?
4986 usw. usw… ist eine Heilzahl, sagt ein russischer Guru, und der macht jetzt womöglich Ärger, weil die Pressebeschauerin sie nicht nochmal vollständig vorgelesen hat und also die Wirkung untergräbt… weil das Zahlenzählen in der Pandemie manchmal groteske Züge annimmt – Inzidenzwerte, Positivraten, R-Werte und Verdopplungszahlen, und jetzt kommt noch ein Hotspotwert hinzu – weil Zahlen Menschen seit Ewigkeiten faszinieren und verunsichern, bietet der TAGESSPIEGEL eine kulturelle Zahlenkunde, von der altbekannten bösen 13 über die Zahl PI im Film bis eben zum russischen Guru, und Hannes Soltau schließt den Parforceritt so:
"Apropos, wie viele morgendliche Stunden wir noch auf Tabellen starren werden bis wir von der kollektiven Paranoia erlöst sind, hängt einzig von einer Zahl ab: Der der wirksamen Impfstoffe."

Heilsbringer Impfung?

"Antikörper, erlöse uns", heißt es dazu passend in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG, wo Joachim Müller-Jung warnt, die erhofften Impfstoffe nicht als Heilsbringer per se zu sehen.
"Die Impfstoffe, die nicht einmal zugelassen und auch noch gar nicht wissenschaftlich abschließend beurteilt, geschweige denn logistisch auf die Schiene gesetzt sind, haben inzwischen einen Erlöserstatus erreicht, der ohne Superlative schwer zu beschreiben ist. Es ist, als könnte schon der Glaube an Immunität die Corona-Berge versetzen, die sich jetzt in der Lockdown-Verlängerung vor uns auftun. Die Vorstellung, dank Immunität über kurz oder lang auf Masken, Abstand und Virentests verzichten und Infektiosität ausschließen zu können, ist gegenwärtig nur ein Hype."

Blutspender sind Mangelware

"Einfach Leben retten" lesen wir in der TAZ und wollen schon weiterblättern, denn irgendwann, pardon Virus, ist auch mal gut. Aber es geht nur mittelbar um Corona, denn auch in virenfreien Zeiten schon ging die Zahl der Blutspender bedenklich zurück. Zwar sei jeder Dritte im Laufe seines Lebens einmal auf fremdes Blut angewiesen, aber:
"In Deutschland spenden nur 2 bis 3 Prozent der Bevölkerung regelmäßig Blut". Jetzt, in der Pandemie, könnte es bedrohlich knapp werden, denn Termine in Firmen z.B. fallen flach wegen Kurzarbeit und Homeoffice, und die mobilen Blutspendetrucks können auch nicht fahren.
Sich kurz piksen lassen und spenden, das könnte die gute Tat sein, die fast jeder Gesunde leisten kann, so der Tenor des ganzseitigen Artikels in der TAZ: "In erster Linie gibt es das gute Gefühl, bis zu drei Leuten das Leben zu retten."

George Washington ist modern

Themenwechsel. "Wie man aus dem Amt scheidet", diese Titelzeile finden wir in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG und wir fürchten schon, dass die Kollegen jetzt aber doch ein bisschen sehr spät dran sind mit Mahnungen an einen amtierenden US-Präsidenten, der sowieso auf keinen Rat hört.
Aber Willi Winkler ist listiger und geistreicher. Er hat die Abschiedsrede des ersten US-Präsidenten George Washington aus dem Jahre 1796 ausgebuddelt und meint, sie wäre eine schöne Lektion für Trump. Nicht nur für ihn, denkt man verblüfft, wenn man sich durch diese uralten Zeilen voller Umsicht und, ja, Weisheit liest. Wenn George Washington etwa rät, sich "vor den Betrügereien eines vorgetäuschten Patriotismus zu hüten". 1796. Sowas von modern.
Noch was Schönes? Die SZ überschreibt ihre Rezension des neuen Romans von Nick Hornby, der seine großen Themen Fußball und Liebeskummer munter weiter pflegt, frohgemut mit dieser Zeile: "Den Verliebten gehört das Jetzt".
Mehr zum Thema