Aus den Feuilletons

"Sozialstaat oder Einwanderung"

Der Publizist Henryk M. Broder
Der Publizist Henryk M. Broder © dpa / picture alliance / Erwin Elsner
Von Adelheid Wedel · 18.06.2017
Wenn Deutschland kein Sozialstaat mehr sei, dann würde auch der Migrationsdruck nachlassen. Diese Rechnung stellt Publizist Henryk M. Broder in der "Welt" auf. Bunt, tolerant und weltoffen zu sein, hält er für: infantil.
"Ich bin noch nie so gebraucht worden wie hier", gibt Regisseur Stefan Otteni in der Tageszeitung TAZ zu Protokoll. Autor Kriss Rudolph spricht von einem "atemberaubenden Projekt", denn "Otteni arbeitet im Irak mit Geflüchteten aus Syrien". Die Menschen flohen vor dem Krieg in Syrien nach Suleiman, eine Großstadt in der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak.
"Kinder und Erwachsene, Geflüchtete und Bewohner der Stadt gehören dem Theaterprojekt an."
Das Außergewöhnliche dabei:
"Es zeigt in einer Region, die seit Jahren von Krieg, Zerstörung und Hass bestimmt wird, dass Religionen und Nationen nicht nur nebeneinander, sondern auch miteinander versöhnlich auskommen können."
Angestoßen wurde das Theaterprojekt durch den deutsch-iranischen Schriftsteller Narvid Kermani, der seine Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2015 dem Orden Deir Mar Musan Habaschi und seinem entführten Gründer widmete. Dieser Orden arbeitet an…
"… der Aussöhnung zwischen Islam und Christentum. Die Glaubensbrüder wollen syrische Christen und syrische Muslime, sie wollen Kurden und Araber zueinander führen und einen Ort schaffen, an dem die Menschen sich im Respekt vor den anderen Glaubenstraditionen begegnen, ohne Vorurteil und Wertung, ohne Hass."
Das Kloster des heiligen Moses, 200 Kilometer von Mossul entfernt, setzt für dieses Ziel eine Menge in Bewegung und gibt auch der Theatertruppe um Otteni eine Heimstatt. Im Juni führen sie "Die Konferenz der Vögel" auf, dabei erzählen die Mitspieler ihre Geschichten oder ihre Träume in einer "Vision der Versöhnung".

Bescheidene Dichter auf dem Poesiefestival

Visionen, Träume, sie sind der Stoff, aus dem Poesie entsteht. In Berlin wird seit vergangenem Freitag und noch bis zum kommenden Samstag das 18. Poesiefestival in der Akademie der Künste gefeiert. Es steht in diesem Jahr unter dem Motto: "Europa – Fata Morgana".
"Das passt gut zu dem Kontinent, der nicht weiß, wie er mit Leuten umgehen soll, … die nach wie vor ihr Leben aufs Spiel setzen, um ihn zu erreichen", schreibt Hans-Peter Kunisch in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG. Vorgetragen wurde, wie immer, im Original. Die Übersetzungen aber wurden in diesem Jahr nicht auf eine Leinwand projiziert, sondern das Publikum konnte sie in kleinen Heften nachlesen. Das missfiel dem Rezensenten. Sein Lob hingegen galt der Bescheidenheit der angereisten Poeten.
"Dichtung kann nicht mehr sein als eine Art Zufall, ein Mund. Doch gerade, indem Lyriker ihre Wichtigkeit nicht auftrumpfend einklagen, verleihen sie ihren Wörtern die Gelegenheit, mit überraschender Präsenz zu überzeugen."
Wie es zum Beispiel der 1981 in Wroclaw geborenen Dagmara Kraus gelang:
"millionen flüchtige wörter / stehen an der grenze zu diesem gedicht."
Sie verknüpft politisches Geschehen als Gegen-, Neben- und Ineinander von Sprache und galt, laut SZ, als "Entdeckung der Poesienacht 'Weltklang'" in der Berliner Akademie der Künste.

Küppersbusch hält Kohl für "den letzten pazifistischen Kanzler"

Henryk Broder stellt in der Tageszeitung DIE WELT eine steile These auf. Sie heißt: "Sozialstaat oder Einwanderung". Kurz zusammengefasst meint er:
"Je mehr Geld für den Kampf gegen Armut ausgegeben wird, umso mehr breitet sich die Armut aus. Der Wohlfahrtsstaat scheint die Zustände zu produzieren, deren Beseitigung er sich zur Aufgabe gemacht hat."
Daraus schlussfolgert Broder:
"Weniger Wohlfahrt könnte weniger Armut bedeuten, weniger Abhängigkeit vom Staat, mehr Eigenverantwortung und Eigeninitiative. Und sobald es sich bis in den letzten Winkel des Senegal herumgesprochen hat, dass Deutschland kein Sozialstaat mehr ist, würde auch der Migrationsdruck nachlassen. Wir haben die Wahl", meint Broder, "wir bleiben – bunt, tolerant weltoffen und infantil. Oder wir werden erwachsen."
Noch immer rufen der Tod von Alt-Bundeskanzler Helmut Kohl Nachrufe und Erinnerungen in den Zeitungen auf. Einen prägnanten Nachtrag auf "den letzten pazifistischen Kanzler" liefert Küppersbusch in seiner TAZ-Kolumne:
"Bis zum letzten Tag der Amtszeit Kohls waren keine deutschen Soldaten zu Kriegseinsätzen im Ausland. Nach ihm waren sie es ununterbrochen."
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