Aus den Feuilletons

Sorge um die Zukunft der Türkei

Anhänger des türkischen Präsidenten Erdogan auf dem Taksim-Platz in Istanbul.
Die Sorge um die Zukunft der Türkei treibt zum Wochenende auch viele Feuilletonisten um. © AFP / Bulent Kilic
Von Adelheid Wedel · 16.07.2016
Der Putschversuch in der Türkei und die anschließenden sogenannten Säuberungsaktionen verdrängen alle Geschehen in den Feuilletons der vergangenen Woche. Der Chefredakteur der "Cumhuriyet" Can Dündar sieht in der FAS den Putschversuch vor allem als Steilvorlage für Staatspräsident Recep Tayip Erdogan, seine Macht brutal auszuweiten.
Kaum hatte man die Nachricht aus Nizza eingeordnet, brachte das Wochenende noch unglaublicheres Geschehen an die Öffentlichkeit: "Am Freitagabend verkündete das türkische Militär, die Macht im Land übernommen zu haben", lesen wir in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN SONNTAGSZEITUNG. Und weiter: "Einige Stunden später meldete die Regierung, der Putschversuch sei beendet." Die FAS kommentiert: "Trotz der Unzufriedenheit mit dem Autokraten Erdogan stellten sich sämtliche Parteien und ein Großteil der Bevölkerung gegen den Anschlag auf die türkische Demokratie." Skeptisch geht es weiter: "Die Ereignisse der Nacht und Erdogans Reaktion zeigten aber auch, dass die Türkei sich in einen noch unfreieren Ort verwandeln wird."
Die FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG druckt drei aktuelle Berichte und Einschätzungen der Ereignisse vom Wochenende. Einer stammt vom Chefredakteur der türkischen Zeitung "Cumhuriyet", Can Dündar. Er meldet seine Zweifel am Geschehen rund um den jüngsten Putschversuch an und empfiehlt, die Ereignisse genau zu betrachten: "Wieder Militär, wieder 'Schutz der Demokratie, Verhinderung der Rückständigkeit' als Motiv, ... wieder wurde ein Putsch angezettelt, der die schwache Demokratie des Landes vollständig aussetzt. Wieder sind die Gewinner die Vertreter vom politischen Islam. Der laienhaft inszenierte nächtliche Putsch wurde mit Erdogans Aufruf an die Bevölkerung, auf die Straße zu gehen, ohne weiteres weggefegt. Gegen Morgen erklärte Erdogan seinen Sieg zur 'Heldentat der Demokratie'." Dündars Argumentation ist glasklar: "In einer Zeit, da Erdogan die Demokratie im Land schon seit langem ausgesetzt hat, ... eine Zeit, in der er auf dem Sprung ist, als Alleinherrscher Präsident in einem Präsidialsystem zu werden, spielte der kümmerliche Putschversuch ihm die Gelegenheit zu, auf die er längst gewartet hat." Dündars Blick in die Zukunft verrät wenig Gutes: "Es ist abzusehen, dass Erdogan diese Gelegenheit meisterhaft nutzen wird, den Prozess gegen die Putschisten wird er zu einer Machtdemonstration ummünzen, in naher Zukunft Wahlen ansetzen und wiederum gestärkt an die Spitze des Präsidialsystems rücken. Was für eine Chance für ihn, der das Land seit langem wie trunken von der eigenen Macht regiert!"

Ece Temelkuran dachte, sie wohnt einer Inszenierung bei

Die Schriftstellerin Ece Temelkuran berichtet - ebenfalls in der FAS - was sie in der Nacht vom Freitag zum Sonnabend beobachtete. "Es ist halb zwei in der Nacht und von allen Minaretten in der Türkei erklingt unablässig dieser spezielle lange Gebetsruf, der bei Todesfällen zur Anwendung kommt. Endet einer, fängt schon der nächste an. Das Donnern der Kampfjets über unseren Dächern vermischt sich mit diesem ins Mark gehenden Gebetsruf, der für uns den Tod ankündigt." Zunächst hatte sie den Eindruck, einer Inszenierung beizuwohnen. "Eine Handvoll perplexer Soldaten hatte eine der Bosporusbrücken gesperrt. Sie brüllten die Leute an: Geht nach Hause. Ernster wurde die Sache, als Erdogan über den Chatdienst Facetime in den Fernsehkanälen auftauchte und die Bevölkerung aufrief, auf die Straße zu gehen, um die Demokratie zu schützen. Innerhalb weniger Minuten füllten sich die Straßen mit Autos voller Leuten, die Allahu akbar - Gott ist groß brüllten."
Nach der Landung des Staatspräsidenten auf dem Atatürk-Airport, soll Erdogan zu seinem Schwiegersohn, dem Energieminister, gesagt haben: "Damit tut Allah uns einen Gefallen. Weil dieser Vorgang für eine Säuberung in unseren Streitkräften sorgen wird." Sehr ernst der Kommentar von Ece Temelkuran: "Damit war klar, in was für einem Land wir am nächsten Morgen aufwachen würden. ... Es war der Morgen eines Landes, in dem nicht die Demokratie gestärkt war, sondern Erdogan."
Als dritte Stimme zur Situation in der Türkei meldet sich der Journalist Bülent Mumay: "Wir haben in dieser Nacht kaum Schlaf gefunden. Wir sind aufgewacht in einem Land, das über Nacht ein ganzes Jahrhundert verloren hat." Mit Sicherheit werden auch in den folgenden Tagen Kommentare versuchen, das Geschehen zu verstehen oder auch die Hintergründe offen zu legen.

Gedenken an Esterhazy rückt in den Hintergrund

Die anderen Kulturthemen müssen in diesem Wochenrückblick zwangsweise zu kurz kommen. Aber nicht verzichten wollen wir auf den Nachruf auf einen großen europäischen Schriftsteller. Jan Küveler nennt den Ungarn Péter Esterhazy in der WELT AM SONNTAG "einen postmodernen Postmonarchisten". 66-jährig ist er in dieser Woche gestorben. "Esterhazy bekämpfte die Postmonarchie mit einer Postmoderne, die sich nicht mit der Gegenwart zufrieden gab, sondern die Vergangenheit einschloss", schreibt Küveler. In der BERLINER ZEITUNG und der FRANKFURTER RUNDSCHAU formuliert Arno Widmann über "den Akrobaten und Spieler: Er fand Geschichten, bettete sie ein in andere gefundene Geschichten, die eingepackt waren in wahre Begebenheiten und geflunkerten Klatsch. Ge- und Erfundenes verschmolz zu etwas, das rauschen konnte wie ein Wald".
Mit "der Alterswilde" überschreibt Patrick Wildermann seine Gratulation im TAGESSPIEGEL zum 65. Geburtstag von Volksbühnen-Chef Frank Castorf an diesem Sonntag. Und er zitiert den Noch-Intendanten mit dem Satz: "Konflikt ist notwendig für das Theater. Konsens ödet ihn an", weiß der Gratulant und charakterisiert den Jubilar weiter: "Kampf findet er gut. Castorf ist ein Harmonie-Dissident, den aus gutem Grund die Konsenssoße anödet, die landauf, landab auf den Bühnenangerührt wird."
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