Aus den Feuilletons

Sind Theater mehr als Freizeiteinrichtungen?

05:54 Minuten
Porträt von Oliver Reese im Großen Haus des Berliner Ensemble.
Oliver Reese, Intendant des Berliner Ensembles, ist über den erneuten Lockdown für die Theater verärgert. Für ihn sind Theater schlicht systemrelevant. © Berliner Ensemble / Moritz Haase
Von Tobias Wenzel · 07.11.2020
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Die FAZ empört sich über verärgerte Intendanten, die von systemrelevanten Theatern träumen. Bis vor Kurzem hätten Theaterschaffende sich eher als Unterwanderer denn als Stützen der Gesellschaft verstanden.
"Wie auch immer es letztlich ausgeht, mit oder ohne Nachhilfe der Gerichte, das Land bleibt in der Mitte gespalten", sagte mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen in den USA die Historikerin Jill Lepore im Gespräch mit der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG.
Noch vor den Wahlen schrieb Hans Zippert mit seinem beißenden Humor in der WELT: "Klar ist nur, nach der Wahl werden die Vereinigten Staaten implodieren und in einem blutigen Bürgerkrieg versinken. Wir sollten jetzt schon Carepakete mit Kaugummi und Schokolade packen und nach drüben schicken." Oder vielleicht an Donald Trump einen Ratgeber mit dem Titel "Verlieren lernen".
Dass sich der Noch-Präsident gleich am ersten Wahlabend als Sieger erklärte und die Auszählung der Stimmen stoppen lassen wollte, überraschte nicht, aber schockierte trotzdem. "Warum kann der Mann nicht einfach abwarten und auf redliche Weise gewinnen – oder eben verlieren?", fragte Roland Nelles in seinem Artikel "Der Antidemokrat" auf SPIEGEL.de.

Trumps Resonanzrhetorik ist das Geheimnis seines Erfolgs

In der digitalen Ausgabe des Magazins gibt es nun ausnahmsweise zwei Cover: Auf dem einen hat sich Donald Trump mit einem Gewehr in der Hand im Weißen Haus verschanzt. Auf dem anderen setzt Joe Biden, der nun gewählte kommende Präsident, der Freiheitsstatue den Kopf wieder auf, den ihr Trump in einem anderen SPIEGEL-Cover abgeschlagen hat.
Wieso ist fast die Hälfte der US-amerikanischen Wähler auf die Idee gekommen, "Trump solle sie regieren?", fragte Jürgen Kaube in der FAZ. Das liege an seiner "Resonanzrhetorik", erklärte der Romanist Hans Ulrich Gumbrecht in der WELT: Trump punkte bei seinen Anhängern ja nicht mit konkreten Inhalten, "sondern mit einem eindrucksvoll entwickelten Effekt von Unmittelbarkeit und Resonanz, mit der Suggestion, jene Bürger zu erreichen, sie ernst zu nehmen, ihnen nahe zu sein, welche sich aus verschiedenen Gründen als unterprivilegiert ansehen."

Ist Florida das Ostdeutschland der USA?

"Egal, wie diese Wahl ausgeht, wir sind eine Sekte geworden, die den Tod anbetet", schrieb der US-amerikanische Schriftsteller Gary Shteyngart für die Donnerstagsausgabe der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG. "Ein Staat voller Rentner, Florida, hat einen Mann gewählt, der entschlossen ist, sie umzubringen." Als würde er auf Shteyngart reagieren, machte sich Peter Richter im nebenstehenden Artikel lustig über "eher linke und damit einhergehend oft auch sensible Amerikaner", die sich darüber aufregen, dass Trump in Florida noch klarer gewonnen hat als vier Jahre zuvor.
"Das verdammte Florida, wo Latinos, Schwarze und Rentner nur selten das tun, was man in zum Beispiel Brooklyn von ihnen erwartet, es möge im Meer versinken, keiner würde es vermissen", schrieb Richter in der SZ, fragte "Ist Florida das Ostdeutschland der USA?" und antwortete: "Der entscheidende Unterschied: schöneres Wetter. Und viel mehr Geld."

Sind Theater systemrelevant?

Trotzdem danke für die Überleitung von den USA nach Deutschland, wo man übrigens auch ohne Religion glauben kann, nämlich ans Theater: "Für die Nicht-Gläubigen, die es nicht in die Kirche drängt, sind wir ein Ort, an dem man sein Seelenheil pflegen kann." Mit diesen Worten zitiert Jan Küveler in der WELT AM SONNTAG Oliver Reese, den Intendanten des Berliner Ensembles. Reese ist über den erneuten Lockdown für die Theater verärgert und auch darüber, dass Theater für die politischen Entscheider "Freizeit"-Einrichtungen sind, genauso wie Bordelle und Spaßbäder.
Mark Siemons von der FRANKFURTER ALLGEMEINEN SONNTAGSZEITUNG wäre es lieber, wenn die Künste gerade nicht danach strebten, als systemrelevant bezeichnet zu werden: "Es ist noch nicht lange her, da hätten es sich Künstler verbeten, als systemrelevant vereinnahmt zu werden: Sie hätten sich eher als Unterwanderer denn als Stützen der Gesellschaft verstehen wollen."

Auffanglager für Millionen Amerikaner

"Wir unterhalten, aber wie das Verb beinhaltet, wir halten von unten", schrieb dagegen Herbert Grönemeyer in der ZEIT. "Kultur stützt die Menschen in ihrer Verzweiflung, Trauer, in ihrer Lust, Freude, ihrem Lachen, ihrem Mut und ihrer Zuversicht." Der Sänger regte deshalb an, die Reichen sollten die unter der Pandemie wirtschaftlich besonders leidenden Künstler finanziell unterstützen: "Deutschland hat circa 1,8 Millionen Millionäre, und eine Gesellschaft ist eine Familie." Und seine Familie lasse man doch nicht im Stich.
"Man wird ja wohl noch träumen dürfen", heißt es im neuen SPIEGEL. Sechs Autoren haben darüber nachgedacht, wie das wäre, wenn Politiker die Kultur als so wichtig einschätzten, dass sie lieber "Fleischfabriken" schlössen als Museen und Theater. Aber in der jetzigen Situation seien wir, so der Titel des Artikels, "Kurz vor Blödland".
Die Rede ist von Deutschland, nicht von den USA. Dort gibt es begründete Hoffnung, dass die Machtübergabe doch friedlicher abläuft als zuerst befürchtet. Obwohl der Satiriker Hans Zippert in der WELT nicht nur einen Bürgerkrieg, sondern auch noch eine Flüchtlingswelle aus den USA in Richtung Europa prophezeite: "Wir müssen Auffanglager für Millionen Amerikaner bauen und Willkommenskulturarbeit leisten, aber vor allem müssen wir den Flüchtlingen die Grundlagen der Demokratie vermitteln."
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