Aus den Feuilletons

Politik der Umarmung

Zwei Frauen umarmen sich.
Um "Nähe" und "Ferne" geht es in den Feuilletons. © imago stock&people
Von Tobias Wenzel · 24.02.2018
"Touch Me Not" heißt der Siegerfilm der Berlinale. Porträtiert werden Menschen, die Probleme haben sich auf körperliche Nähe einzulassen. Damit haben Protagonisten des Stücks "Liberté" gar kein Problem. Die Zusammenfassung des Tagesspiegels: "Heißer Sex im märkischen Land?".
"Es sind Bilder wie in der Illustrierten einer Krankenkasse", schrieb, am Tag vor der Preisverleihung der Berlinale, Daniel Kothenschulte entsetzt in der FRANKFURTER RUNDSCHAU mit Blick auf "Touch Me Not", Adina Pintilies halbdokumentarischen Essayfilm über "Menschen, die Probleme mit körperlicher Nähe haben".
"Erhellend ist dabei höchstens die leichte Überbelichtung: Die zentrale Szene vereint die Patienten als Zuschauer einer schummrig inszenierten Orgie mit vorsichtigen Demonstrationen aus der Fetisch-Szene. Für die Preisverleihung an diesem Samstag wird sich die Jury nach anderem umschauen müssen."
Genau das wollte die Jury allerdings nicht tun. Den Goldenen Bären vergab sie an eben diesen Film "Touch Me Not". Aber das konnte Daniel Kothenschulte, als er seine Kritik schrieb, ja noch nicht wissen beziehungsweise befürchten. Dieser Rückblick in die Feuilletons der scheidenden Woche nimmt allerdings sehr gerne als roten Faden die Anregung auf, "die Menschen, die Probleme mit körperlicher Nähe haben", durch gemeinsame Körperlichkeit friedvoll zu vereinen. Mit einer Umarmung, mit Sex, sei es mit dem anderen Geschlecht oder dem gleichen oder mit beiden.

Theaterstück für Perücken-Fans

"Ich finde, die Jungen nehmen sich gar keine Zeit mehr, um sich zu fragen und auszuprobieren, wer sie sind", sagte der bisexuelle Schauspieler Helmut Berger der ZEIT. Katja Nicodemus und Peter Kümmel interviewten den angeblich einmal schönsten Mann der Welt und Ingrid Caven. Beide spielen nämlich in Albert Serras Theaterstück "Liberté" an der Berliner Volksbühne mit. "Albert Serra schreibt noch jeden Tag am Stück, auch während wir proben", erzählte Berger vor der Premiere. Und Caven ergänzte: "Ja, es kommt wohl eher ein Kunstobjekt heraus als ein Theaterstück." Na, das passt ja zum Museumsmann Chris Dercon, dem neuen Intendanten des Hauses, dachte man da als Leser und befürchtete schon Schlimmes.
"Die Story, wenn man das überhaupt so nennen kann, erzählt von einem Trupp französischer Adliger auf dem Weg nach Potsdam und Berlin, anno 1774", versuchte Rüdiger Schaper im TAGESSPIEGEL eine Zusammenfassung der Premiere an der Berliner Volksbühne.
"Sie fliehen vor Ludwig XVI. und seiner Prüderie und wollen die Preußen missionieren, Libertinage einführen. Heißer Sex im märkischen Sand?"
Es folgte ein Verriss. Allerdings gab Schaper zu: "Wer Perücken erotisch findet, kommt hier auf seine Kosten. […] Wer ein Fetischist von Sänften ist, erlebt einen großartigen Abend." Peter Laudenbach von der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG sah eine "lange, zähe, trostlose Zumutung", vielleicht aber auch eine Anspielung auf die Lage der Volksbühne: "Der glücklose Intendant Chris Dercon klagt ja oft genug, er sei ein Opfer linker Ideologen, denen es an Weltläufigkeit mangle." Aber wozu die ganzen Grabenkämpfe. Wieso dieses "Touch Me Not"? Warum umarmt Chris Dercon nicht einfach mal seinen Vorgänger Frank Castorf? Und Alice Weidel den Journalisten Deniz Yücel?

Die TAZ verteidigt Yücel gegen Rechtspopulisten

Die TAZ druckte erneut den von der AfD kritisierten Text "Super: Deutschland schafft sich ab", Deniz Yücels provozierende Polemik aus dem Jahr 2011. Seine Antwort auf das bekannte Buch von Thilo Sarrazin. "Deniz hat uns alle herausgefordert. Mich auch", gab Daniel Schulz in derselben Zeitung zu, verteidigte Yücel, der ein Jahr lang offensichtlich unschuldig im türkischen Gefängnis saß, aber gegen die Kritik der Rechtspopulisten: "Während ich das hier schreibe, lässt die AfD im Bundestag über Deniz‘ Texte reden. Diese Partei hat dem Deutschland Namen und Gesicht gegeben, das Deniz so gerne untergehen sehen wollte. Es gibt ein besseres. […] Lesen Sie die Texte von Deniz, dort werden Sie es finden."
Ist es überhaupt denkbar, dass zwei Menschen die körperliche Nähe des jeweils anderen ertragen, wenn sie ideologisch geradezu verfeindet sind? "Eine deutsche Liebesgeschichte" hat Tobias Rapp seinen Artikel für den neuen SPIEGEL genannt. Damit spielt er auf den Germanisten Helmut Lethen, einen linken 68er, und dessen Ehefrau Caroline Sommerfeld-Lethen an, eine Philosophin, die sich seit dem "Flüchtlingssommer 2015" in der Neuen Rechten engagiert. Ein tiefer ideologischer Graben geht durch das Ehepaar, das gemeinsame Kinder hat, liest man aus dem Artikel. Zwar habe sich Lethen "Fragen zur Familie" verbeten. Er wolle nur über sein neues Buch sprechen. Aber letztlich habe er sich selbst nicht dran gehalten, schreibt Rapp:
"Es arbeitet in ihm, das ist offensichtlich. Wie sollte es auch anders sein. Lethen und Sommerfeld, das ist eine deutsche Liebesgeschichte, wie sie reiner und tragischer gerade kaum vorstellbar ist."
Und so seien die Bücher, die jeder der beiden schreibe, zugleich auch Briefe oder eine Flaschenpost an den Ehepartner. Lethens neues Buch "Die Staatsräte" über das Dritte Reich und Sommerfelds Buch "Nationalmasochismus".

War schon der Neandertaler ein Künstler?

Kann man da in einer Ehe die ideologischen Differenzen einfach mal vorübergehend zur Seite kuscheln? Und wenn das der Homo sapiens tatsächlich kann, war dann vielleicht auch schon der Neandertaler dazu in der Lage? Der konnte jedenfalls, wie Ulf von Rauchhaupt in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN berichtete, entgegen bisheriger Annahmen malen. Ein Forscherteam um Dirk Hoffmann vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig hat in spanischen Höhlen unter anderem einen "abgepausten Handumriss" gefunden und auf eine Zeit datiert, zu der es keine andere Menschenart als den Neandertaler gab. "Und sein Umgang mit Farbe dürfte keine nur gelegentlich aufflackernde Marotte gewesen sein, sondern Teil einer kulturellen Tradition", schrieb der Journalist, betonte aber, dass malen nicht gleich malen sei:
"[Es] verstößt nicht gegen die Würde eines Menschen wie eines Neandertalers, wenn man ihn, obgleich er malt, deshalb noch nicht als Künstler bezeichnet."