Aus den Feuilletons

Öko-Rigoristen im Sharing-Wahnsinn

06:18 Minuten
Zwei E-Scooter in Berlin
Werden von Benzinfahrzeugen zum Aufladen gebracht: E-Scooter in Berlin © picture alliance/Jens Kalaene/dpa-Zentralbild/ZB
Von Arno Orzessek · 03.08.2019
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Ökologie in vielen Facetten in den Feuilletons: Die "SZ" nimmt die soziale Frage der Klimadebatte in den Blick, die "Welt" schreibt über Greenwashing in der Kunst und ruft obendrein wegen der E-Scooter den "Sommer des Sharing-Wahnsinns" aus.
"Denkfaule Demokratieverächter" – titelte, eindeutig abfällig, die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG.
Und als wir die Überschrift lasen, dachten wir: Aha! Die linksliberale SZ knöpft sich mal wieder irgendwelche Dumpfbacken von rechts außen vor!
Aber von wegen! Tatsächlich kritisierte der Soziologe Armin Nassehi "die soziale Kälte der Klimadebatte".
"Alle Diskussionen um die Bepreisung von CO2-Ausstoß haben eben nicht nur eine sachliche Dimension, sondern auch eine soziale. Wer das Fliegen teurer macht, trifft vor allem diejenigen, die es sich weniger leisten können. Wer den Energieverbrauch besteuert, wird eher die Haushalte treffen, die einen höheren Anteil ihres Einkommens für den Hausbrand ausgeben müssen. Und wer über die Pendler spottet, hat womöglich einen Beruf, der sich auch am heimischen Schreibtisch erledigen lässt. Höhere Preise treffen immer die weniger Wettbewerbsfähigen."
Schlichte, aber richtige Argumente von Armin Nassehi, der in der SZ auch ganz grundsätzlich wurde.
"Die unrealistischste Perspektive auf das Klimaproblem ist gerade die katastrophische Ausblendung der Einsicht, dass all das in einer Gesellschaft stattfindet, die so ist, wie sie ist. Die Kunst besteht darin, Lösungen mit den Mitteln dieser Gesellschaft zu finden. Das gilt vor allem für die soziale Frage. Das gilt aber auch dafür, dass man sich die Gesellschaft nicht einfach als einen Apparat vorstellen kann, in dem man Aktivitäten herunterfahren kann. Einmal erreichte Differenzierungen lassen sich nicht einfach herunterfahren, ohne selbst eine erhebliche Dynamik zu entfachen, die übrigens alles andere als klimaneutral wäre."
Armin Nassehis Artikel in der SZ war kein stilistisches Meisterwerk. Wohl aber ein Denkzettel für jene Öko-Rigoristen à la Greta Thunberg, die über der Rettung der Menschheit oft die Menschen vergessen.

Die E-Roller sind neu in der Flotte der Sharing-Fahrzeuge

Eine weit süffigere Lektüre bot "Die große Mobilmachung" – eine "Roadmovie-Reportage" von Boris Pofalla in der Tageszeitung DIE WELT.
"Wir erleben den Sommer des Sharing-Wahnsinns", konstatierte Pofalla mit Blick auf die in Berlin längst unüberschaubare Flotte der Sharing-Fahrzeuge – und gönnte den E-Rollern besondere Aufmerksamkeit.
"Abends, wenn die Sonne untergegangen ist, sehe ich die Juicer, die E-Roller mit süßen Miniatur-Nummernschildchen in ihre Kastenwagen laden wie erschöpfte Schlittenhunde. Sie kommen zeitgleich mit den Schwalben und den Fledermäusen heraus. Ob die fleißigen Akkutauscher auch hier im Viertel wohnen? Möglicherweise fahren sie mit der S-Bahn oder dem Diesel rein, um den Millennials in den Szenekiezen morgens ein emissionsfreies Gleiten in die Agentur zu ermöglichen. Wie viele Dieselkilometer muss man wohl in so einem Transporter zurücklegen, um die Akkus von 4800 E-Rollern einen Sommer lang geladen zu halten? Darüber denkt man lieber nicht nach."
Auf Attacke gebürstet zeigte sich dagegen Hanno Rauterberg in der Wochenzeitung DIE ZEIT.

Die Kunst des Greenwashings

Rauterberg behauptete, Kunst aller Art, die sich mit der Klima-Problematik befasst, dient "zuallererst dem Greenwashing. Sie soll ablenken von der kapitalistischen und letztlich umweltschädlichen Steigerungslogik, der die meisten Museen, Konzerthäuser und Theaterfestivals gehorchen. Die Kulturwelt insgesamt, vor allem aber der Kunstbetrieb produziert einen ökologischen Fußabdruck, der ähnlich maßlos ist wie der Geltungsdrang der Branche. Es gilt als Selbstverständlichkeit, dass Kuratoren für einen kleinen Atelierbesuch um die halbe Welt jetten, dass immerzu Kunstwerke per Flugexpress versandt werden und bei den Messen in Miami oder Basel die Flughäfen nachgerade verstopft sind, weil so viele Sammler mit einem Learjet anreisen."
Sehr maliziös: Hanno Rauterberg in der ZEIT.

Der Mensch hinter der Geschichte

Viel Aufmerksamkeit erregte unterdessen der frühe Tod der Historikerin Marie Sophie Hingst, die sich über viele Jahre fälschlicherweise als Jüdin und Nachfahrin von Holocaust-Opfern ausgegeben hatte.
Bis sie im Mai von dem Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL in einer großen Geschichte von Martin Doerry entlarvt wurde, obwohl Hingsts psychische Erkrankung bekannt war.
Unter dem Titel "Der Mensch dahinter" ging Peter Weissenburger in der TAGESZEITUNG der Frage nach, ob die aufkeimende Kritik am SPIEGEL berechtigt ist.
"Hat Doerry, wie (Hingsts) Mutter sagt, den Mensch hinter der Geschichte nicht mehr gesehen? Viel eher ist es genau andersherum. Viel eher gibt es ein Zuviel von dem Mensch Sophie Hingst in dem Spiegel-Text, im Report der Irish Times und in der Debatte um den Fall. Bei Doerry heißt es im typischen Beschau-Absatz, sie wirke 'mädchenhaft' und: 'Eitelkeit scheint ihr fremd'. Klar, Hingst, die Holocaust- Hochstaplerin, ist ein Faszinosum. Aber der Skandal spielt eigentlich ganz woanders. Er liegt in der erschütternden Erkenntnis, dass sich eine Holocaust-Geschichte recht einfach fälschen lässt."
Im neuen SPIEGEL äußerst sich Martin Doerry selbst: "Der Tod der Historikerin Marie Sophie Hingst bewegt mich Tag und Nacht. Mitte Juli wurde sie leblos in ihrer Wohnung aufgefunden. Die Frage, die nun alle an diesem Drama Beteiligten beschäftigt, treibt mich um: War es richtig und notwendig, über die junge Frau und ihre Lügengeschichten zu berichten?"
Schließlich nimmt Doerry auch Stellung zu dem Vorwurf von Derek Scally, dem Berliner Korrespondent der IRISH TIMES, er – Doerry – habe die Kranke "wie bei lebendigem Leibe gehäutet".
"Die Legenden von Frau Hingst müssen von allen wirklichen Holocaust-Überlebenden und ihren Familien als Verhöhnung der Opfer empfunden werden. Zudem liefern diese Fiktionen den Holocaust-Leugnern gefährliche Argumente. Denn wenn – wie im Fall Hingst – manche Schicksale erfunden sind, könnte ja auch noch viel mehr erfunden worden sein. Es verstört mich, dass man darauf immer wieder hinweisen muss."
Wenn wir uns überlegen, wovon heute unser Wochenrückblick gehandelt hat, dann müssten wir eigentlich das Schlusswort verwerfen, das wir schon vorher herausgesucht hatten.
Es war eine Überschrift in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUHNG. Sie lautet:
"Egal, was passiert, das Leben ist schön."
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