Aus den Feuilletons

O schmölze doch dies allzu feste Fleisch

Demonstranten zeigen in Moskau ein Plakat mit Porträts von Adolf Hitler, Benito Mussolini, Felix Dzerzhinsky, Lavrenty Beria und Wladimir Putin.
Demonstranten zeigen in Moskau ein Plakat mit Porträts von Adolf Hitler, Benito Mussolini, Felix Dzerzhinsky, Lavrenty Beria und Wladimir Putin. © dpa / picture alliance / Novoderezhkin Anton
Von Arno Orzessek · 22.03.2014
In den Feuilletons dieser Woche herrscht viel Erregung. Während Geschmackskritiker sich an Kapern und Konjunktiven laben, vergleichen die weltpolitischen Auguren Putin mit Mussolini oder die Ukraine mit Kanada.
Zum Weltbewegenden und Relevanten kommen wir früh genug, liebe Hörer. Zunächst jedoch zum Schönen in seiner essbaren Spielart, zum Leckeren also.
Für die Rubrik "Mundstücke" in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG verköstigte Samuel Herzog Kapern, genauer: "die kleine Knospe von Capparis spinosa", und erwischte offenbar Exemplare vorzüglicher Güte:
"In Salz eingelegt […], entwickeln die […] Knospen einen krautigen Orangengeschmack mit Noten von Veilchenwasser und Himbeere. Diese geradezu frivole Fruchtigkeit lässt an Patisserien denken oder an Blüten, die sich der Welt so offensichtlich anbieten, wie sie augenscheinlich fragil sind – leuchtende Geschlechtsteile, die sich nur für die Dauer einer einziges Nacht öffnen, ein duftendes, gieriges Hier und Jetzt. Ein größerer Widerspruch zum knickerigen Äußeren der Kapernknirpse ist kaum vorstellbar – hier dürftige Realität, da grandiose Phantasie",
begeisterte sich der Kapern-Connaisseur Samuel Herzog in der NZZ.
Mundgerecht auch Ulrich Seidlers Betrachtung zu einem William Shakespeare-Satz aus "Hamlet", dargeboten in der Serie "Wills Worte" in der BERLINER ZEITUNG:
"Es ist die Schlegel’sche Übersetzung mit dem wunderschönen Konjunktiv ‚schmölze‘, die einem nicht mehr aus dem Kopf geht. Wer ‚schmölze‘ mit ein bisschen Genuss spricht, schenkt sich selbst einen Zungenkuss. Hier, viel Freude, die beiden Zeilen zum Nachschmecken: ‚O schmölze doch dies allzu feste Fleisch, / Zerging und löst‘ in einen Tau sich auf.‘"
Dahingeschmolzen wie Weingummi zwischen Zunge und Gaumen: Ulrich Seidler in der BERLINER ZEITUNG.
Nun aber zur dürftigen Realität diesseits von Zungenkuss und lasziven Kapernknirpsen:
"Wo ist [Flug] MH 370? Warum ist Putin böse? Weshalb Mitleid mit Hoeneß und Hass für Edathy?"
fragte sich Bettina Gaus in der TAGESZEITUNG, wiederholte mehrfach die Demutsformel "Man weiß ja insgesamt so wenig", ging dann aber forsch zum Angriff über:
"Beunruhigend ist […], dass offenbar auch diejenigen keine Ahnung haben, von denen man annahm, dass sie gut informiert seien. […] Wie anders lässt sich die Verblüffung und kopflose Reaktion westlicher Regierungen auf die Tatsache erklären, dass Russland die Entwicklung in der Ukraine nicht gelassen hingenommen hat? Man kann das, was auf der Krim passiert […], mit guten Gründen verurteilen. Aber man kann doch nicht wirklich davon überrascht worden sein. Wie würden denn wohl die USA reagieren, wenn Kanada ein Bündnis mit Moskau einginge und feindselige Signale an Washington aussendete?"
… schüttelte Bettina Gaus in der TAGESZEITUNG den Kopf.
"Brüssel und Berlin waren blauäugig", schlug der Politologe Herfried Münkler in der Tageszeitung DIE WELT in die gleiche Kerbe:
"Man hat sich [so Münkler] zu wenig Gedanken gemacht, was das Assoziierungsabkommen für Moskau bedeutet. Brüssel hat agiert, als ginge es bloß um das Administrieren von Wohlstand und die Durchsetzung menschenrechtlicher Normen. Niemand war auf ein Spiel mit Gegenakteuren eingestellt. Darin zeigt sich die außenpolitische Handlungs- oder noch besser Reflexionsschwäche der Europäischen Union. Sie macht sich zu wenig Gedanken über die Gestaltung von Räumen."
Woraufhin die WELT Münkler die Gretchenfrage stellte: "Kommt es zum Krieg?"
Münklers ahnungsvolle Antwort: "Das kann ich mir nicht vorstellen. Der Westen wird keine militärischen Aktionen vornehmen."
Nun denn. Es besteht kein Zweifel daran, dass Vladimir Putin augenblicklich die Black Box der Weltpolitik ist. Ist er sogar ein Faschist? Eben das behauptete der Osteuropahistoriker Stefan Plaggenborg in der FAZ:
"Putin inszeniert sich wie Mussolini. Der Führer ist das System. Man muss nur die Bilder nebeneinanderhalten, um die Parallele zu bemerken. Führerschaft und Virilität gehen zusammen: Mussolini halb nackt bei der Ernte, Putin halb nackt beim Angeln, das ganze Bildprogramm des Faschismus con variazione, mit Amphoren, sibirischen Tigern, beim Reiten, beim Skifahren. Dieser öffentliche Putin ist ebenso wie der Duce eine Kunstfigur, deren beherrschende Stellung aber nicht übersehen werden darf",
warnte der FAZ-Autor Stefan Plaggenborg.
Ob Faschist oder nicht − dass Putins Verehrer Valery Gergiev nächstes Jahr der Chefdirigent der Münchner Philharmoniker werden soll, brachte die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG schwer ins Grübeln:
"Gergiev […] wird damit leben müssen, dass seine offen zur Schau getragene politische Haltung Proteste nach sich zieht, die letztlich auch sein Künstlertum tangieren. Er allein hat es zu verantworten, dass seine Konzerte jetzt nicht nur musikalische, sondern immer auch politische Veranstaltungen sein werden. […] Letztlich wird Gergiev entscheiden müssen, ob er die Kraft hat, diesen dornigen Weg zu gehen."
Irgendwie dornig war auch der Spaziergang, den Moritz von Uslar – Autor der Wochenzeitung DIE ZEIT − mit dem Bestsellerautor Thilo Sarrazin gemacht hat, dessen neuestes Werk „Der neue Tugendterror“ heißt.:
"Nach einer Viertelstunde Spaziergang mit […] Sarrazin ist die Sprache schon so hochgerüstet, dass weitersprechen, ohne aneinander Schaden zu nehmen, schwer möglich scheint. Was soll man tun? Über Eichhörnchen reden? Über Zwanziger-Jahre-Architektur?"
Die Spaziergänger haben dann aber doch genügend Themen gefunden und solange geredet, bis Moritz von Uslar ein suggestives Sarrazin-Zitat abgegriffen hatte, das in der ZEIT zur Bild-Unterschrift taugte.
Es lautete: "Ich habe immer gern zertrümmert."
Den Handel mit gedruckten Büchern zu zerschmettern, dass ist die Absicht von Amazon – jedenfalls, sofern man Andrew Wylie folgt. Der Literaturagent riet in der FAZ allen Autoren, die nach einem Verlag suchen, und allen Verlagen, die sich über Vertriebswege Gedanken machen:
"Wenn Sie die Wahl haben zwischen Amazon und der Pest, wählen Sie die Pest!"
Liebe Hörer, wir hoffen, dass Sie für diesen Sonntag zwischen besseren Alternativen wählen können.
Folgen Sie indessen auf keinen Fall der Handlungsanweisung, die in der WELT Überschrift wurde. Sie lautete: "Erst Cybersex, dann Schuss und Schluss."