Aus den Feuilletons

"Nicht die beste Wahl"

04:23 Minuten
Der Choreograph Christian Spuck vor einem Logo des Bolschoi Theaters in Moskau.
Bei der Besetzung von Christian Spuck als Leiter des Berliner Staatsballetts scheiden sich die Geister. © picture alliance/dpa/Ulf Mauder
Von Arno Orzessek · 16.06.2021
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Der Choreograf Christian Spuck wird neuer Intendant des Berliner Staatsballetts. Das sei, als ob Justin Bieber die Berliner Philharmoniker leiten würde, erbost sich die FAZ. Die "Welt" hingegen meint, es hätte schlimmer kommen können.
Zunächst eine Notiz aus der Schreibwerkstatt. Es kommt vor, dass wir einen Artikel für betörend klug oder stilistisch grandios oder in sonstiger Hinsicht für gelungen halten, aber im Text kein geeignetes Zitat finden, um unseren guten Eindruck in begrenzter Zeit auf Sie zu übertragen.
Wiebke Hüsters Polemik "Der Intendant als Galerist" in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG allerdings wirft dieses Problem nicht auf, wie schon der entfesselte Einstieg klarmacht.
"Drastisch ausgedrückt, ist der eben von Bürgermeister und Kultursenator Klaus Lederer (Linkspartei) berufene Choreograf Christian Spuck so geeignet, das Staatsballett Berlin zu führen, wie Justin Bieber, das Amt des Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker auszufüllen. Bieber kann Noten lesen. Spuck kann Fragmente des bildungsbürgerlichen Kanons so in seine repetitive, oberflächliche, Robert-Wilson-bloß-schneller-hafte, postmodern-schicke Ästhetik verpacken, dass, wer nicht genau hinguckt, das für zeitgenössischen Tanz hält, für tief, womöglich für Handlungsballett."
Wir verstehen wenig genug von der Kunstform Ballett, um uns ganz unbedarft an Wiebke Hüsters Zorn zu erfreuen, wollen aber nicht unterschlagen, dass Manuel Brugs Urteil über Christian Spuck in der Tageszeitung DIE WELT gnädiger ausfällt.
"Er ist nicht die beste Wahl, aber es hätte auch schlimmer kommen können. Mit Spuck lässt es sich leben. Und zum ersten Mal seit 2014 scheint das gebeutelte Staatsballett Berlin so eine langfristig zukunftsfähige Perspektive zu haben."

Die intellektuelle Faszination des Bitcoins

Von der Kunst zur Knete und zu dem Artikel "Das schlaue Gold" in der Wochenzeitung DIE ZEIT. Ijoma Mangold interpretiert den Bitcoin als "eine neue politische Bewegung der radikalen Dezentralität".
Wenn das in Ihren Ohren so klingt, als wären Mangolds Ausführungen eher nichts für Husch-husch-Lektüre, dann haben Sie richtig gehört. Der Einstieg allerdings geht locker runter.
"Die größte Stärke des Bitcoins", so Mangold, "ist seine Fähigkeit, intellektuell zu faszinieren. Man könnte sagen: Er ist das Gegenteil von dummem Geld. Er verdankt sich einer neuen Technologie, doch nichts wäre er ohne die ideelle Energie, mit der er seit seiner Erfindung vor zwölf Jahren weltweit die klügsten Köpfe anfixt. Es ist eine politisch-technologische Idee, die das Zeug dazu hat, das Bankensystem hinwegzufegen, Menschen, die noch nie ein Konto hatten, Zugang zu einem weltweiten Zahlungssystem zu ermöglichen, die Macht der Zentralbanken herauszufordern, Schutz vor Inflation zu bieten, kurz, die Welt zu einem besseren Ort zu machen." Näheres zum wundersamen Bitcoin in der ZEIT.

Fragen zur Identitätspolitik

Die Wochenzeitung DER FREITAG fragt unterdessen auf der Titelseite: "Wer hat Angst vor Identitätspolitik?", was man als ironische Anspielung auf das alte Kinderspiel "Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?" lesen könnte.
Einer von mehreren Beiträgen, in denen es um die besagte Identitätspolitik geht, heißt "Farbenblind werden" und stammt aus der Tastatur von Nikita Vaillant. Laut Informationskasten eine "person of color" – "(für diejenigen, die das interessiert)", fügt der FREITAG hinter der Farbinformation in Klammern hinzu.
Nikita Vaillant leugnet den Rassismus der Weißen keineswegs, er betont allerdings:
"Es wäre realitätsfern, Rassismus vornehmlich oder ausschließlich bei weißen Menschen zu verorten – wer wie ich in einem Einwandererviertel aufgewachsen ist, weiß ganz genau, dass auch 'People of Color', wie türkisch- und arabischstämmige Menschen, genau wie Schwarze und alle anderen rassistisch sein können. Diese einfache Opfer-Täter-Dichotomie ist grob simplifizierender Quatsch.
Nicht nur sind weiße Menschen inhärente Täter, sie sind auch Objekt homogenisierender Begriffe wie Alman oder Colonizer. Dass man keine weißen Mitbewohner mehr will, dass man jeder weißen Person in der U-Bahn misstraut, oder dass man keine neuen Freundschaften mehr mit Weißen eingehen möchte, sind Dinge, die mir nicht selten zu Ohren kommen."
Und das, um es abzukürzen, hält Nikita Vaillant für keine gute Entwicklung.
So viel für heute. Tun Sie im Übrigen bitte das Ihre dafür, dass nach der Pandemie nicht das eintritt, was eine finstere WELT-Überschrift prophezeit: "Wir werden wieder dieselben Muffelköpfe werden."
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