Aus den Feuilletons

Mit Igor Levit durch die Weltgeschichte

06:29 Minuten
Portrait von Igor Levit bei einem Interview.
Dem neuen SPD-Parteivorsitzenden riet der Pianist, aus der SPD wieder eine linke Partei zu machen. © picture alliance /AP Images / Tomoko Hagimoto
Von Klaus Pokatzky · 14.12.2019
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"Der Freitag" wollte von Igor Levit wissen, wann er zuletzt U-Bahn gefahren ist, was er an Angela Merkel schätzt und was er vom neuen SPD-Vorsitzenden Norbert Walter-Borjans hält. Kurz vorweg: An Merkel schätze er ihre nicht vorhandene männliche Eitelkeit.
"Wann sind Sie zuletzt U-Bahn gefahren?", fragte die Wochenzeitung DER FREITAG. "Letzte Woche", antwortete der Pianist Igor Levit. "U2 Berlin. Die sollte man zum Weltkulturerbe erklären." Die U2 ist eine echte Wiedervereinigungs-U-Bahn. Sie führt von Ruhleben im Westen bis nach Pankow: ganz weit im ehemaligen Osten.
"Berliner Verkehrsbetriebe wollen Weltkulturerbe werden", teilte uns die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG mit – "also an die Seite der neapolitanischen Pizza und des deutschen Orgelbaus". Nichts gegen Pizza oder Orgeln. Die eine schmeckt, die andere klingt nett. Pizza und Orgel haben es also nicht verdient, mit dem Berliner Nahverkehr auf eine Stufe gestellt zu werden.
"Alle Verspätungen, alle Unfreundlichkeiten des Personals", zählte die SÜDDEUTSCHE als Nahverkehrsunkulturen auf, "allen Stillstand auf Baustellen, auf denen die Eröffnungsdaten künftiger Aufzüge für Menschen, die es schwer haben mit Treppen, immer weiter nach hinten geschoben werden". Der Kulturpressebeschauer könnte da noch viel mehr aus eigener leidvoller Erfahrung anfügen – aber das würde Stunden dauern.
"Gehen Sie zu sorglos mit Ihren Daten im Netz um?", fragte DER FREITAG Igor Levit. "Nicht mehr", meinte der.

"Die Welt wurde flach"

"Die Neunziger waren aus Erde und Asphalt", lesen wir in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN SONNTAGSZEITUNG. "Die Nuller waren aus Holz, Touchscreens und rollbaren Office-Möbeln", wirft Kolja Reichert einen Blick in fast zwei Jahrzehnte digitalen Daseins zurück.
"Alles sollte sich bewegen. Man trank den Kaffee jetzt im Gehen und hörte Musik aus minimalistisch weißen Stöpseln. Die Technik war zum Anfassen. Internet war was Gutes. Irre. Wie vorbei das ist."
Und wer in der Berliner U-Bahn fährt, sieht nur noch Menschen auf ihre Mobilgeräte starren und hört sie überlaute Telefongespräche führen. "Die Welt wurde flach. Jede Bewegung ging in die Breite, in die Vernetzung", so Kolja Reichert. "Jeder kam jetzt in den Genuss des Privilegs von Journalisten, nämlich in zwei Welten zugleich zu sein, der Welt und den Medien (damals ergab diese Unterscheidung noch Sinn)."

Merkels nicht vorhandene männliche Eitelkeit

Und damit zur Politik. Da gibt es ja Kontinuitäten. Immerhin haben wir eine Kanzlerin, die jetzt schon 14 Jahre amtiert. "Was mögen Sie an Angela Merkel?", wollte DER FREITAG von Igor Levit wissen. "Ihren Humor, ihren Intellekt", schätzte der Pianist. "Ihre Übersicht, ihre nicht vorhandene männliche Eitelkeit". Da könnte sich manch ein Mann mehr als nur eine dicke Scheibe von abschneiden.
"Volkstribun Johnson ist jetzt Prinz der Herzen", fasste die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG den Wahlsieg von Boris Johnson bei den britischen Parlamentswahlen zusammen – und wunderte sich nicht, warum der Oppositionsführer Jeremy Corbyn eine so krachende Niederlage einfuhr.
"Am Ende verlor Labour aber nicht zuletzt auch deshalb dramatisch, weil Corbyn nicht wusste, zu welcher Uhrzeit die Königin ihre Weihnachtsansprache hält, und bei der Frage, ob er denn das Land liebe, dass er regieren wolle, herumdruckste", meinte Gina Thomas – und warf einen Blick darauf, ob denn das Vereinigte Königreich überhaupt ein Vereinigtes bleiben wird.

Großbritannien bald ohne Schottland?

"Nicola Sturgeon, die Erste Ministerin Schottlands, fühlt sich durch den überragenden Erfolg ihrer nationalistischen Partei in ihrem Streben nach einem neuerlichen Unabhängigkeitsvotum bestärkt. Und zum ersten Mal in der Geschichte Nordirlands haben nationalistische Parteien mehr Sitze erlangt als die Befürworter der Union mit England."
Aber Elisabeth als ihre Queen und ihr Staatsoberhaupt sollten sie unbedingt behalten. Die hat das, was Igor Levit an unserer Kanzlerin beschrieben hat: Humor, Intellekt, Übersicht, nicht vorhandene männliche Eitelkeit.
"Welchen Rat würden Sie den neuen SPD-Parteivorsitzenden geben?", hatte der Pianist noch im Fragebogen des FREITAG zu beantworten. "Uff", stöhnte der erst und meinte dann: "Werdet wieder eine linke Partei. So eine SPD. Das war’s. Hört auf zu glauben, dass eure Vergangenheit als Daseinsberechtigung ausreichend sei. Ist sie nicht."

Kann Matthias Brandt die SPD retten?

Da stimmt die FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG zu: "Die SPD braucht einen Neuen", verlangt sie entschieden. "Vielleicht zur Abwechslung jemand, der nicht schon jahrelang im parteipolitischen Sud mariniert wurde", zählt Niklas Maak auf, wie er sich seinen Wunschkandidaten vorstellt.
"Der genug Witz hat, dass die Leute bei seinen Auftritten nicht einschlafen, und genügend Würde, um nicht im Bundestag den anderen das Wort ‚Ätschi‘ entgegenzukreischen. Also zum Beispiel jemand wie der Schriftsteller und Schauspieler Matthias Brandt."
Und dessen Vater Willy war schließlich unser erster sozialdemokratischer Bundeskanzler. "Er schaut", erfahren wir aus der WELT AM SONNTAG über Matthias Brandt, "wie wahrscheinlich nur er schauen kann", beschreibt Elmar Krekeler ein Treffen mit dem potenziellen Kanzlerkandidaten.
"Mit Augen, die ganz groß sind, selbst wenn sie, was sie häufig sind, wundersamerweise ohne dabei je berechnend zu wirken oder abschätzig, nur halb offen scheinen." Das sind doch schon mal ganz gute Voraussetzungen.
Ob er seine Rundfunkgebühren "eigentlich gern" zahlt – wollte DER FREITAG noch vom Pianisten Igor Levit wissen. Antwort: "Ja."
Danke!
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