Aus den Feuilletons

Mit Hitler groß werden

06:23 Minuten
Roman Griffin Davis als Jojo Betzler und Taika Waititi als Adolf Hitler sehen erstaunt in die Kamera
Filmstill aus "Jojo Rabbit": Die Filmkomödie des neuseeländischen Regisseurs Taike Waititi beherrschte die Feuilletons der Woche. © imago images / Prod.DB
Von Arno Orzessek · 25.01.2020
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In der "taz" hieß es über die Hitler-Komödie „Jojo Rabbit“: Ob sie als Nazi-Satire funktioniere, sei dahingestellt. Als Geschichte eines Jungen, der aus erlernten Vorurteilen herausfinde, erweise sich der Film aber als mitreißend und wunderbar großherzig.
"Mein Freund Hitler" titelte die Tageszeitung DIE WELT, "Mein Freund Adolf" die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, "Mein Freund, der Nazi", die Wochenzeitung DER FREITAG. Aber bevor jetzt jemand ans Auswandern denkt: Das alles war natürlich nicht buchstäblich zu verstehen. Als ob die hiesigen Feuilletons über Nacht monochrom braun geworden wären. Es ging stets um "Jojo Rabbit", die Filmkomödie des neuseeländischen Regisseurs Taike Waititi, in der sich der 10-jährige Jojo während der NS-Zeit mit einem imaginären, aber dauerpräsenten Hitler herumschlägt. In der WELT befand Hannes Stein hingerissen:
"In diesem Film gelingt Waititi einfach alles, nicht obwohl, sondern weil er von einer wahnwitzigen Prämisse ausgegangen ist. Und sein hüpfender, schlenkernder – und im Übrigen natürlich vollkommen blödsinniger – Über-Hitler ist mindestens so lustig wie der keifende, hustende Diktator, den einst Charlie Chaplin der Welt vermacht hat."
In der TAGESZEITUNG zeigte sich Barbara Schweizerhof dagegen verunsichert – konzedierte aber am Ende: "Ob ‚Jojo Rabbit‘ als Nazi-Satire funktioniert, sei dahingestellt. Als Geschichte eines Jungen, der aus erlernten Vorurteilen herausfindet, erweist sich der Film mit seiner ausgestellten Leichtigkeit als mitreißend und wunderbar großherzig."

Hitlers Befehl für den Holocaust

Zugleich blickten die Feuilletons restlos ernst auf den Holocaust zurück und auf den Jahrestag der Befreiung des KZs Auschwitz am kommenden Montag voraus. In der WELT hieß es:
"Seit Langem sucht man Hitlers Befehl für den Holocaust. Dabei haben wir ihn doch. Man muss nur das Protokoll der Wannsee-Konferenz vom 20. Januar 1940 richtig lesen." Der Dichter Jeremy Adler, ehemals Professor am Londoner King’s College, stellte seine Lektüre des unheilvollsten Protokolls der Geschichte vor und betonte: Gerade durch geschicktes Verbergen liefere das Protokoll einen "sicheren Beleg für den Führerbefehl".
"Dass Hitler den Genozid in den Gaskammern im Sinne gehabt haben muss, wird aus dem Vermerk klar, dass ‚rund 11 Millionen Juden in Betracht‘ kamen. Eine solche Aufgabe konnte nur durch den in Vorbereitung [befindlichen] industriellen Mord erfolgen. Weder Vernichtung durch Arbeit noch Massenerschießungen würden für die Beseitigung von elf Millionen Menschen hinreichen. Die Zahl bestätigt den genauen Inhalt von Hitlers Befehl."
"Auschwitz vergessen – geht das?", fragt Anna Prizkau in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN SONNTAGSZEITUNG von diesem Sonntag. Und ihre Antwortet lautet: "Ja." Prizkau ist es nämlich selbst einmal passiert – und nun denkt sie darüber nach, was aus der Erinnerung wird, wenn der letzte KZ-Überlebende tot ist:
"Ein bisschen Hitler-, Himmler-, Mengele- und Eichmann-Thrill wird bleiben. Aber Vergangenes wird so vergessen werden. Erinnern wird vollkommen leer sein und erledigt. Was also tun? Verstehen, dass es einerseits das Wir-Erinnern gibt, was wichtig ist; doch dass es andererseits ein Ich braucht – das nachdenkt, lernt, begreift –, denn nur dadurch bekommt Erinnern auch eine wahre, große, richtige Bedeutung."
Die meisten unter uns werden Anna Prizkau gewiss beipflichten. Aber wenn nun jemand Erinnerung für überbewertet hält? Dann bräche vermutlich ein Streit darüber los, wer wem seine Moral vorschreiben darf. Und diese Problematik ist so aktuell wie brisant.

"Wokeness" und Normkritik liegen nah beieinander

"Sei wach, richte über andere, fühle dich gut" betitelte die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG in sarkastischem Tonfall einen Artikel über "Wokeness", worunter man laut NZZ "eine gesteigerte Form der Political Correctness" zu verstehen hat.
"Ihre Verfechter", so Simon M. Ingold, "erklären sich als ‚woke‘ – eine von ‚awake‘ abgeleitete Wortkreation, die eine höhere Form von Bewusstsein in Bezug auf den prekären Zustand der Welt unterstellt. Woke ist, wer Autos und Flugzeuge als Fortbewegungsmittel ablehnt, wer sich der Fortpflanzung verweigert und Amazon boykottiert. Nicht woke ist, wer dem antiquierten Schönheitsideal 90-60-90 nachhängt und Ausstellungen von Balthus besucht. Greta Thunberg und Lukas Bärfuss sind woke. Prince Andrew und Peter Handke sind es nicht."
Ein verwandtes Thema griff die SZ auf. Thomas Steinfeld kritisierte die erblühende "Normkritik" in Schweden, die es darauf anlegt, gesellschaftliche Normen zu hinterfragen – aber sich dabei selbst zum Maßstab nimmt. "Die Normkritik", so Steinfeld, "hat die Macht und setzt die Norm – die nun wiederum nicht kritisiert werden soll. Eine solche Normkritik kann also letztlich nur eine Aufforderung zur ‚Jagd‘ sein: Fort mit allem, fordert sie, was eine Norm im verpönten Sinn verkörpert, und das heißt: etwas anderes als ‚unsere‘ Norm."

"‚Hysterie‘ is back! Aaaaaargh! Wir ertragen das nicht!"

Ob sie es zur Norm erheben oder nicht: Die meisten Menschen halten Klimaschutz für geboten – einige jedoch nicht, weshalb sie über die "Klimahysterie" schimpfen, die wiederum von Sprachwissenschaftlern der TU Darmstadt zum Unwort des Jahres 2019 gekürt wurde.
"Kreisch", kreischte angesichts dessen DER FREITAG und bemängelte, es werde "eine Krankheitsbezeichnung wieder hervorgekramt, die wir für sexistisch und überholt hielten: ‚Hysterie‘ is back! Aaaaaargh! Wir ertragen das nicht!" Die hysterische Ausdrucksweise war gewiss ironisch gemünzt. Aber ob so oder so: DER FREITAG fasste das Wichtigste über die Hysterie in seinem "Wochenlexikon" zusammen und hielt unter F fest:
"Frauenfeindlichkeit: Oh, wie gruselt's mir: Für den Mann scheint es nichts Angsteinflößenderes gegeben zu haben als die weibliche Sexualität, zugleich schamvolle Reinheit und libidinöses Begehren. ‚Hysterie‘ leitet sich von der altgriechischen Bezeichnung für die Gebärmutter ab und wurde als typische Krankheit des angeblich schwachen Geschlechts konstruiert. Tausende diagnostizierte Hysterikerinnen wurden im 19. Jahrhundert in neue Nervenheilanstalten eingewiesen. Als legitime Therapie galt die Entfernung der Klitoris. Die männliche Angstprojektion der kastrierenden Vagina fand ihre barbarische Konsequenz."
Okay. Sie werden selbst entscheiden, ob Sie nach der Belehrung durch den FREITAG das Wort "Klimahysterie" weiterhin, es sei kritisch oder affirmativ, im Munde führen wollen. Übrigens: Müssten wir die Feuilleton-Produktion der Woche mit einer einzigen Überschrift resümieren – wir würden eine aus der FAZ wählen. Sie lautet: "Was für ein Theater."
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