Aus den Feuilletons

Migration – Ist Deutschland klüger geworden?

Kinder von Migranten in berufsbildender Schule, Frankfurt am Main 2009
Kinder von Migranten posieren in einer berufsbildenden Schule © picture alliance / dpa / Frank Rumpenhorst
Von Arno Orzessek · 13.12.2014
Deutschland habe begriffen, dass es mit seinen Migranten nur leben kann, wenn es sie integriert - das zeige ausgerechnet die Kontroverse um Thilo Sarrazin, ist die "SZ" überzeugt. Ein Rückblick auf die vergangene Woche in den Feuilletons.
Zunächst ein Happen für die Leckerschmecker... Serviert von Paul Ingendaay in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG:
"Zum Beispiel der Teigmantel der Ravioli: Es kam der Tag, da wollte der spanische Meisterkoch Ferran Adriá für die unscheinbare Fleischmasse eine andere Umhüllung produzieren. Fein sollte sie sein, aus subtilerem Stoff als die dicke, profane gelbe [Nudel-]Schicht, und hindurchschauen wollte er auch. Wie Adriá für sein Restaurant elBulli in genau festgehaltenen Arbeitsschritten mit Soja, japanischer Kartoffel und Olivenöl eine transparente Oblatenhülle für die Ravioli schuf, die sich nur hirn- und herzlose Menschen ohne einen Moment feierlicher Vergeistigung in den Mund schieben würden, das ist eine der Attraktionen."
... und zwar der Madrider Ausstellung "Auditando el proceso creativo" – zu deutsch etwa: "Überprüfung des schöpferischen Prozesses" -, die Paul Ingendaay in der FAZ mit tiefer Verbeugung vor Ferran Adriá feierte.
"Adriás Kochen ist Kreation, Philosophie, Forschungsgegenstand und Metadiskurs."
Zu gelinder Überhöhung tendierte auch der Artikel "Tiefergelegt mit Blitz", in dem der Schriftsteller Ulf Erdmann Ziegler in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG die Stilllegung des Opelwerks in Bochum als "Zäsur in der westdeutschen Industriegeschichte" markierte ...
Produktnamen von vor dem Krieg
Und auf jene Zeit zurückblickte, "da Opel Kadett oder Rekord Identitäten stifteten".
Wobei die alten Opel-Namen Ziegler bis heute baff machen.
"Erstaunlich [...], dass Opel nach dem Krieg an den Produktnamen von vor dem Krieg festgehalten hat. Der Beiname Olympia hielt sich bis in die siebziger Jahre, meinte aber ursprünglich eine Nobelkarosse anlässlich der Olympischen Spiele von 1936. [...] Der Kadett ist der Spross an der Militärakademie; der Kapitän ein wichtiger Mann zur See wie sein militärischer Kollege, der Admiral. Wenn man zusätzlich bedenkt, dass [Opel-Eigner] General Motors an der Fabrik festhielt, die wiederum von den Alliierten bombardiert worden war, [...] [erscheint] das patriarchalische Deutschtum der Bezeichnungen fast unerklärlich",
staunte Opel-Experte Ziegler in der NZZ.
"Deutschland ist klüger geworden"
Apropos Deutschtum!
In der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG bemerkte Rudolf Neumaier unter dem Titel "Ihr seid wir" anlässlich der Ausstellung "Immer bunter. Einwanderungsland Deutschland" im Bonner Haus der Geschichte:
"Wie die jüngsten Irrungen der CSU beim Thema Integration zeigen, dauert der Lernprozess bei manchen noch an. Aber eines kann man jetzt schon sagen [...]: Deutschland ist klüger geworden. Es hat begriffen, dass es mit seinen Migranten nur leben kann, wenn es sie integriert oder noch besser: ins Herz schließt. Exemplifizieren lässt sich der Lernerfolg ausgerechnet an [Thilo] Sarrazin. Noch vor 20 Jahren wäre eine Spukgestalt wie er nicht aufgefallen [...]. Von Schwarz bis Rot beschrien die Abgeordneten [damals] die Überfremdung und schürten Ressentiments."
SZ-Autor Neumaier behauptete also, Deutschland sei klüger geworden...
Wohingegen Adonis alias Ali Ahmed Said Esber – laut der Wochenzeitung DIE ZEIT "der bedeutendste Dichter der arabischen Welt" – für eben diese Welt jeglichen Fortschritt in Abrede stellte.
"Im Kern hat sich die arabische Kultur seit fünfzehn Jahrhunderten nicht verändert. Sie negiert die Freiheit des Individuums, sie negiert seine Rechte, sie negiert die Weiblichkeit."
"Weil sie gar kein Interesse daran haben"
Dem Westen pfefferte Adonis übrigens vergleichbar Harsches um die Ohren – zumal, als DIE ZEIT in Person von Iris Radisch fragte, wie es zum IS-Terror kommen konnte.
"Europa unterstützt das. [...] Amerika unterstützt die religiösen Kriege in den arabischen Ländern seit langem. Durch den Irakkrieg haben die Amerikaner den sunnitisch-schiitischen Konflikt ins Rollen gebracht, der zu entsetzlichen Massakern geführt hat. [...] 40 Länder schaffen es nicht, einen sogenannten islamischen Staat zu schlagen. Und warum nicht? Weil sie gar kein Interesse daran haben",
unterstellte der Dichter Adonis in der ZEIT.
Würde es nun etwas nützen, abendländische Werte zu beschwören? So, wie es "Pegida" tut, die Bewegung "Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes"?
In der Tageszeitung DIE WELT riet Dirk Schümer dringend davon ab:
"Statt [...] von abendländischen Werten zu raunen, muss man sich erst einmal klarmachen, dass keine Zivilisation diese Werte schlimmer geschunden hat als Europa selbst. Wo nach 1945 bei uns eine offene Gesellschaft entstand, wurde sie vielfach von amerikanischen Soldaten implementiert – oft genug Abkömmlingen von Opfern europäischer Sklavenhändler. Was dann wundersam mit der europäischen Einigung in Mitteleuropa entstand [...], war kein Abendland, sondern eine Gesellschaft, die auf universellen Werten von Freiheit, Rechtlichkeit und Menschenwürde beruht."
"Beschämend für das Abendland"
Schümers Bedenken in der WELT hinderten die TAGESZEITUNG nicht daran, mit sarkastischem Unterton "Beschämend für das Abendland" zu titeln ...
Und zwar im Hinblick auf die Tatsache, dass die Dresdner Justiz gegen Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow vorgeht, weil er eine Nazi-Demo blockiert haben soll. TAZ-Autor Sebastian Erb behauptete:
"Die sächsische Einschüchterung hat Methode. Mehrere Antifaschisten wurden schon vor Gericht gezerrt, weil sie angeblich Nazi-Kundgebungen blockierten."
Über den belasteten Begriff "Antifaschist' ließe sich Manches sagen - wir aber loben die TAZ lieber für die intelligenteste Foto-Text-Kombination der Woche.
Das Foto auf der ersten TAZ-Seite zeigte ein Flüchtlingsboot. Der Titel lautete: "Das Meer ist voll".
Falls Sie nun mosern, liebe Hörer, dass Ihnen all die garstigen Nachrichten aus der maroden Welt den dritten Advent verderben – die NZZ würde das verstehen.
Sie titelte: "Die Welt stört beim Leben."
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