Aus den Feuilletons

Metaphern "haltbarer als jeder deutsche Panzerstahl"

Von Arno Orzessek  · 26.07.2014
Die "SZ" entdeckt in Deutschland vor allem politische Durchwurstelei. Die "FAZ" und "Die Welt" analysieren das Land aus russischer Sicht und anhand von Klischees. Nur für die "NZZ" bleibt Vieles undurchsichtig, denn: "Die Welt entgleitet ihren Deutern."
Preisfrage vorab: Was ist der Unterschied zwischen dem Feuilleton und den anderen Ressorts – Politik, Wirtschaft, Sport et cetera? Richtig! Letztere brauchen irgendeinen konkreten Anlass da draußen in der Welt, um einen Artikel ins Blatt zu setzen. Das Feuilleton dagegen hat die Lizenz zur Anlasslosigkeit. Seine Autoren können sich zum Beispiel einfach Gedanken übers große Ganze machen …
Wie in der vergangenen Woche Martin Meyer in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG. Allein die Überschrift! ... In deren Sinn-Tiefen sich Hans Blumenbergs "Die Lesbarkeit der Welt“ und Thomas Pynchons "Die Enden der Parabel“ paarten. "Am Endpunkt der Lesbarkeit“ - so hieß der NZZ-Artikel. Der Untertitel variierte die Aussage und lautete: "Die Welt entgleitet ihren Deutern.“
Puh! ... mag da mancher Leser geseufzt haben. Wie willst du denn ein derart weites Feld in einem einzigen Artikel umpflügen. Aber Martin Meyer hob an:
"Kulturpessimisten atmen auf. Selten war die Welt so unübersichtlich wie heute, und an vielen Fronten scheint sie sich zum Schlechteren zu wenden. Das freilich hätte man immer wissen können: Dass das, was wir Fortschritt und Humanität nennen, ein zartes, alles andere als sturmsicheres Gewächs ist, dessen Triebe periodisch verkümmern. Schon Nietzsche glaubte für seine Epoche zu sehen, wie die Wüste wächst.“
Im Weiteren allerdings stellte Meyer nicht seine eigene, sondern die düstere Weltsicht des New Yorker Philosophen Mark Lilla vor.
Jens Bisky dagegen vertraute auf sich selbst, als er in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG die Frage aufwarf:
"Wie lange kann man eine Krise eigentlich vertagen?“
Wobei Bisky unterstellte, dass Grübeleien nicht im Trend liegen:
"Die Scheu, grundsätzliche Fragen zu diskutieren, sich an die großen Summen zu wagen – diese Scheu ist groß.“
Deutschland nur scheinbar krisenfest
Selbst gar nicht scheu, vermutete Bisky, dass die waltende politische Durchwurstelei auch im scheinbar krisenfesten Deutschland an ihre Grenzen stoßen könnte.
"Dem Land geht es […] gut. Und doch trifft man immer öfter auf die Empfindung, dass mit jedem kleinen Schritt zugleich große Lasten angehäuft werden. Lasten, die bei unglücklichen Wendungen so schwer werden könnten, das Weiterwursteln nicht mehr funktioniert. Kein Mensch braucht noch eine Ruck-Rede, niemandem helfen Revolutionsphrasen. Und klar: Bangemachen gilt nicht! Es verstärkt allerdings das Misstrauen, wenn die derzeit offenkundige Schwäche und Bedrohung der offenen Gesellschaft bloß durchgewunken wird, um sich dann beim Streit über kleine Summen zu trösten.“
Schwammig klangen sie, die Metaphern im SZ-Aufmacher von Jens Bisky.
Aber wie auch anders? ... dürfte Martin Meyer von der NZZ sagen:
"Die Welt entgleitet ihren Deutern.“
Nur geben sie darum das Deuten nicht dran. So wurden nach dem Abschuss von Malaysia-Airlines-Flug MH17 über der Ukraine rasch Verbindungslinien zu Wladimir Putin gezogen.
In der Wochenzeitung DIE ZEIT bedachte Manfred Schneider, warum es vielen Beobachtern "unendlich zynisch erscheint, dass [bloß]eine schnöde Panne [auf Seiten der Rebellen] den Krieg in der Ukraine befeuert haben könnte“.
"Man könnte meinen",so Schneider, "es den vielen Opfern und ihren Angehörigen schuldig zu sein, die Verantwortung für das schreckliche Ereignis bei einem mächtigen Politiker oder […] General zu suchen statt bei einem blöden überforderten Kriegsmann. […] Zwischen dem Schrecken und dem Verursacher muss eine Art Äquivalenz herrschen. Dies ist [allerdings] die Betriebsweise der Paranoia. […] Vermutlich können nur Beobachter mit einem Klarblick wie Friedrich Nietzsche die Weltgeschichte als die 'schauerliche Herrschaft des Unsinns und Zufalls‘ begreifen“,
konstatierte Manfred Schneider in der ZEIT. Und dürfte damit alle genervt haben, die Putin sehr wohl in der Verantwortung sehen, weil ja die Rebellen das Luftabwehr-System, das MH17 vom Himmel holte, allem Anschein nach von Russland erhielten. Wir bleiben bei Artikeln mit hohem Gedankenflug.
Russischer Sumpf und westliche Dekadenz
"Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst“, überschrieb die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Kerstin Holms "Grenzgang zwischen zwei Völkern und Mentalitäten“ – ein Grenzgang, der sie "aus dem russischen Sumpf ins deutsche Biedermeier-Volksheim“ führte.
"Die Kulturnationen des Westens sind für viele Russen nicht nur Studienziel und Urlaubsort, sondern auch Maßstab und Kompensation für das, was ihrem Land fehlt. [Westliche] Dummheiten und Dekadenz […] nehmen sich, aus der Froschperspektive des russischen Sumpfs betrachtet, geradezu apokalyptisch aus. Auch ich war entsetzt, als ich in Moskau erfuhr, dass unser [Ex-]Außenminister [Westerwelle] bei Staatsbesuchen in islamischen Ländern mit seinem Ehemann anrückte, dass die bärtige Frau den Eurovision-Schlagerwettbewerb gewann, dass es neuerdings in Berlin einen Friedhof nur für Lesbierinnen gibt, und schämte mich fast dafür. Wieder zurück in Deutschland wirken diese Dinge eher harmlos.“
Und was schloss Kerstin Holm daraus?
"In Deutschland lebt man auf einem höheren Deck des Menschheitsschiffes und schaut auf die meisten Weltgegenden von oben. Der Nato-Schutzschild umfängt einen wie das kleine Känguru der Bauchbeutel der Mama. Es ist ein ontologischer Innenraum, extreme Klangfrequenzen dringen nicht durch. […] Die Kultur entkoppelt sich von der Welt, wird solipsistisch.“
So die FAZ-Autorin Kerstin Holm.
Die Tageszeitung DIE WELT erklärte dagegen unter dem Foto eines Leopard II: "Die Panzer sind wir“ - und untersuchte das Klischee, das zum Inbegriff deutscher Nationaleigenschaften geworden ist.
"Die Bilder von den deutschen Spielern, die nach dem WM-Finale auf dem Rasen mit Kindern spielen, haben dieses Image ein wenig aufgeweicht. Aber haltbarer noch als jeder deutsche Panzerstahl sind die Metaphern, die noch lange kettenrasselnd durch die Zeitungsartikel rollen werden.“
Und nun jährt sich bald zum einhundertsten Mal der Ausbruch des 1. Weltkriegs. Weshalb Norbert Hummelt in der NZZ erzählte, wie der Dichter Georg Trakl an die Front zog und im Spital umkam. Schon die Überschrift – ein Trakl-Zitat – übertrug den vollen Schrecken:
"'Alle Strassen münden in schwarze Verwesung.'“
Trotzdem wünschen wir Ihnen, liebe Hörer, einen lichten Sonntag.