Aus den Feuilletons

Last der Liebe

Verschiedene Vorhängeschlösser hängen dicht an dicht am Geländer der Brücke Pont des Arts in Paris. Unzählige Paare erhoffen sich ewige Treue, indem sie ein Schloss aufhängen.
Viele „Liebesschlösser“ hängen am Geländer der Brücke Pont des Arts in Paris. © dpa / picture alliance / Klara Fröhlich
Von Gregor Sander |
In der Kulturpresseschau geht es unter anderem um die Diplomarbeit des 9/11-Terroristen Mohammed Atta, um das Berliner Konzert der Rolling Stones und um „Liebesschlösser“ auf dem Pariser Pont des Arts.
„Erst kommt der Mensch, dann das Gebaute, das vom Menschen produziert wird und im Dienste der Menschen sein muss.“ Dieser humanistisch klingende Satz steht in der Diplomarbeit von Mohammed Atta, den die Welt als Attentäter auf das World Trade Center in New York kennt. Atta, so schreibt Stefan Buchen in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG, reichte diese Arbeit im Arbeitsbereich Städtebau-Stadtbaugeschichte der Technischen Universität Hamburg ein und erhielt als Note eine 1,7. Zwei Jahre später flog er mit einem Passagierflugzeug in den Nordturm des World Trade Centers.
In seiner Abschlussarbeit schrieb Mohammed Atta: „Unsere Mission heute ist die Untersuchung dieser Städte, um ihnen zumindest bei ihrer Weiterexistenz zu helfen (. . .) Worum es hier geht, ist die Sicherung eines gesunden, menschenwürdigen Lebens.“ Damit begründet er die Wahl seines Themas: die Sanierung eines Altstadtviertels in der historischen Handelsmetropole Aleppo, im Norden Syriens.“
Atta bewundert die traditionelle Bauweise und idealisiert die „'islamische Stadtgesellschaft‘. Die gemeinsame religiöse Praxis verwische Unterschiede zwischen Arm und Reich.“ Er beklagt aber auch die Vormachtstellung der USA. Seit 2001 hielt man seine Arbeit in Hamburg unter Verschluss, nun durfte Stefan Buchen ihn lesen und kommt in der SZ zu folgendem Schluss: „Sie belegt, dass Atta nicht banal war. Sie setzt einen Kontrapunkt zu dem Bild von der ‚Bestie‘, das sich im kollektiven Gedächtnis eingenistet hat. Sie führt auch vor Augen, worin sich Atta von den Dschihadisten, die heute auf Youtube und Facebook ihre kämpferischen, aber hohlen Monologe posten, unterscheidet. Er hatte Intellekt, dachte über verschiedene Lösungen des Grundkonflikts nach, der ihn beschäftigte. Wie kann sich das kulturelle Ich des Orients gegen die westliche Übermacht behaupten? Man möchte die These wagen, dass die Diplomarbeit und 9/11 zwei diametral entgegengesetzte Antworten auf diesen Grundkonflikt geben.“
Alle Feuilletons vom Donnerstag verneigen sich vor ein paar Briten, die längst das Rentenalter erreicht haben: „Die Rolling Stones, in der Hauptsache bestehend aus 70-Jährigen, spielen „Sympathy for the Devil“. Wie oft hat man das schon gehört und gesehen? Hören die denn nie damit auf? Das wissen nur die glimmer twins selbst. Hier ist jedenfalls nichts peinlich oder unpassend. Mick Jagger, Keith Richards, Ron Wood, Charlie Watts und Darryl Jones verrichten ihr Handwerk von der ersten Note an mit einer solchen Entschlossenheit, dass man sich schämt, auch nur so etwas gedacht zu haben„, schreibt Edo Reents in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG.
Auch Michael Pilz von der WELT, zeigt sich, trotz aller Ironie, von dem Konzert in der Berliner Waldbühne begeistert: „Die Stones spielen noch immer Songs wie ‚Gimme Shelter‘, bei denen man Normbrüche begehen, vielleicht etwas Unkorrektes denken oder einen leeren Pfandbecher zertreten möchte. Für ‚You Can't Always Get What You Want‘ stellt sich der Freitagschor der Universität der Künste aus Berlin mit auf die Bühne. Anständige junge Leute singen heute die Musik der Rolling Stones im Chor.“
Anständige junge Leute haben in den letzten Jahren ein merkwürdiges Ritual entdeckt, um ihre Liebe zu beweisen. Sie hängen Vorhängeschlösser vorzugsweise an Geländer Pariser Brücken: „Potthässlich wirkt es trotzdem auf Passanten“, meint Nina Pauer in der Wochenzeitung DIE ZEIT, „auch die Metapher ist uneindeutig: abgeschlossen für immer, Schlüssel in den Fluss geworfen – die Liebe als Zwinger, Schuppen, Fahrradkeller?“ Doch nun sind die Liebenden zu weit gegangen: „Das Geländer der Pont des Arts, jener Lieblingsschlenderbrücke nahe dem Louvre, auf der Verliebte aller Welt verweilen, brach unter Hunderten sogenannter Liebesschlösser zusammen, Fußgänger mussten evakuiert werden."
Für Nina Pauer von der ZEIT gibt es nur eine Lösung: „Die Liebe lässt sich nicht verbieten. Ein Vorhängeschloss schon.“