Aus den Feuilletons

Lahmende Dynamik und verfließende Zeit

Ellar Coltrane in einer Szene aus dem Film "Boyhood".
Ellar Coltrane in einer Szene aus dem Film "Boyhood". © picture alliance / dpa
Von Arno Orzessek  · 03.06.2014
Die "Berliner Zeitung" schwärmt von der Bruegel-Ausstellung in Chemnitz, die "SZ" von Christof Loys "Don Giovanni"-Inszenierung an der Frankfurter Oper. Restlos ins Schwärmen geraten die Feuilletonisten angesichts Richard Linklaters Film "Boyhood".
Willkommen zu einer Sondernummer der Kulturpresseschau! Anders als sonst widmen wir uns heute ausschließlich dem Rezensionsfeuilleton. Und beginnen mit einer Stilkritik.
Gottes Werk und Teufels Beitrag heißt der Romantitel von John Irving, der bereits in Hunderten von Feuilleton-Überschriften variiert worden sein dürfte.
Die neueste Variante, "Gottes Zorn und Teufels Bosheit" – erfunden von der BERLINER ZEITUNG - kann uns nicht restlos überzeugen ...
Vermutlich, weil "Zorn" und "Bosheit" in einem engeren, aber weniger raffinierten Verhältnis zueinander stehen als "Werk" und "Beitrag".
Nun! Nicht perfekt, aber besser gelungen ist der Auftakt des Artikels von Ingeborg Buthe – gerade weil die Malerei, von der sie schwärmt, zunächst unbenannt bleibt.
"Es sind furiose Gleichnisse: für Himmel und Hölle, Sodom und Gomorrha, Apokalypse und wilde, wüste Bauernfeste, für grotesken religiösen Mummenschanz und ätzende Zeitkritik. Vor unseren Augen ersteht die allegorische Welt des Glaubens und Unglaubens, der Tugenden und Todsünden, der Reformen und Gegenreformen und der Ketzereien des 16. Jahrhunderts."
Die Bilder der Chemnitzer Ausstellung "Pieter Bruegel d. Ä. und das Theater der Welt", sie sind es, die Ingeborg Buthe so begeistern. Der Artikel klingt nach: Hinfahren und ansehen!
Schöner Gesang, schlechter Dirigent
Nach "Hinfahren und anhören!" klingt Egbert Tholls Kritik "Das ehrwürdige Verhalten des Lustmolchs nach der Paarungszeit" in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG. Tholl bejubelt die Leistung des Baritons Christian Gerhaber im Rahmen der Don Giovanni-Inszenierung von Regisseur Christof Loy an der Frankfurter Oper.
"Dieser Don Giovanni hat alles erlebt in seinem Leben, er kennt die Frauen, die Liebe und den Genuss, er ist all dessen nicht einmal überdrüssig geworden, es ist nur keine Sensation mehr für ihn. Und das zeigt Gerhaber mit dem ihm eigenen, immer wieder faszinierenden Wissen um das menschliche Dasein."
Von der Pultarbeit des Generalmusikdirektors Sebastian Weigle hält SZ-Autor Tholl dagegen wenig.
"Weigle dirigiert Mozart, als stamme dessen Musik aus dem 19. Jahrhundert. Er verhindert jeden rhythmischen Akzent, verwischt die Phrasen, kommt zwar zu einem klangschönen Ergebnis, doch in diesem wackeln die Bläser, lahmt die Dynamik und lässt der seifige Grundduktus nie an das Dramma giocoso denken, das Mozart im Sinn hatte."
Das Vergehen der Zeit
Von der Malerei über die Oper ins Kino. Andreas Kilb feiert in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG Richard Linklaters "Boyhood" als "Entdeckung des Kontinents der Kindheit".
"Linklaters Film handelt nicht nur von den besonderen Umständen eines Mittelklasselebens in einer Patchworkfamilie im Amerika des frühen 21. Jahrhunderts, sondern auf nie gesehene Weise von dem, was alle Lebensläufe an allen denkbaren Orten auf der Welt miteinander verbindet: dem Vergehen der Zeit. Und indem er dieses Vergehen zeigt, setzt er zugleich der Apparatur ein Denkmal, die die verfließende Zeit aufzeichnen kann wie keine andere menschliche Erfindung – dem Kino."
Ähnlich hingerissen zeigt sich in der TAGESZEITUNG Jochen Bordwehr, für den in "Boyhood" die Überzeugung waltet:
"Dass ein gelungenes Leben eines ist, das erzählenswert erscheint, und zwar nicht wegen der Ereignisse, sondern wegen der darin erreichten Durchsichtigkeit des Lebens auf seine grundlegenden Bedingungen."
Herzblut verspritzt auch der SZ-Artikel "Was bleibt". Fünf Mal unterbricht sich Tobias Kniebe mit der suggestiven, auf bestimmte Szenen von "Boyhood" anspielenden Frage "Weißt du noch?" – und beim letzten Mal läuft das so:
"Weißt du noch? Wie du im Wohnheim ankamst, und dein Zimmergenosse stellte sich als verrückter Rotschopf heraus, der super war und auch Gras hatte, und kaum waren die Sachen aufs Bett geworfen, standen schon diese beiden Mädchen in der Tür, und dann seid ihr einfach losgezogen in die Wüste, und es lagen Küsse in der Luft und Magie und das ganze Leben lag vor euch? Na klar: War ja erst gestern."
Liebe Hörer, wir wünschen Ihnen allezeit, was in der BERLINER ZEITUNG Überschrift wurde:
"Etwas zum Anfassen."