Aus den Feuilletons

Kultur als kollektives High

04:21 Minuten
Ein Kino hat auf seiner Werbetafel den Satz "Ohne Kunst und Kultur wird's still" stehen.
"Ohne Kunst und Kultur wird's still": Der "Spiegel" schreibt, die Kultur müsse so wichtig wie andere Infrastrukturbereiche werden. © dpa / Marijan Murat
Von Burkhard Müller-Ullrich · 06.11.2020
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Der "Spiegel" träumt von einer Kultur, die so wichtig wird, dass künftig Fabriken und Büros und nicht Museen, Kinos und Theater geschlossen werden. Wichtige Fragen, zum Beispiel, was tun, wenn die Kontaktbeschränkungen länger anhalten, bleiben offen.
Der SPIEGEL hat eine Kulturredaktion, in der sogar geträumt werden darf, und dieser Traum liest sich so:
"Kultur könnte so präsent, so lebenswichtig sein, dass künftige Politiker eher die Fabriken, Büros und Werkstätten herunterfahren, Fleischfabriken schließen, die Lufthansa und die Bahn in die Pause schicken und statt eines geistigen Lockdowns dem Land ein durch 'Arbeitsmilliarden' finanziertes, hygienisch verantwortliches, kollektives High der Inspiration und Seelsorge in Museen, Theatern und Kinos gönnen."

Sonderstatus für Kunst

Das kollektive High, das aus diesem Artikel spricht, an dem nicht weniger als sechs Autoren mitgestrickt haben, läuft auf die Forderung hinaus, den Kulturbetrieb als mindestens so systemrelevant zu betrachten wie die anderen erwähnten Infrastrukturbereiche und unter dem Regime der Corona-Maßnahmen die Künstler und Kunstmanager, Kunstveranstalter und Kunstverbreiter mit einem Sonderstatus zu versehen.
Dafür werden die Geigerin Mona Seebohm, der Theaterbesitzer Dieter Hallervorden, die Museumsdirektorin Nicole Fritz sowie der Popsänger Herbert Grönemeyer ins Feld geführt, der nebst allen staatlichen Hilfszahlungen auch eine Sonderabgabe für Reiche verlangt.
Alle finden es eine Zumutung, dass nicht sehr viel mehr Geld sehr viel schneller an die Künstlerinnen und Künstler fließt, bei denen es sich doch um "wesentliche Stützen der Gesellschaft" handele. Und der Hamburger Kultursenator Brosda wird mit dem Satz zitiert: "Wir dürfen kein Vertrauen verspielen, denn wir brauchen die Künstlerinnen und Kreativen bei der Bewältigung der Krise."
Nach so viel staatstragendem Trommelwirbel fragt der SPIEGEL plötzlich und gleichsam hinterrücks: "Was passiert eigentlich, wenn die Maßnahmen zur Kontaktbeschränkung noch länger anhalten? Sind wir dann auf dem Weg zu einer vollständig staatlich finanzierten Kulturlandschaft, mit Künstlerinnen und Künstlern als Beamten?"
Die Frage steht da, wird aber weder beantwortet noch weiter bearbeitet.
Vielleicht jedoch werden die Künstlerinnen und Kreativen bei der Bewältigung der Krise gar nicht so dringend gebraucht, denn die Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, die Philosophin und Medizinerin Alena Buyx, erklärt im Interview mit der WELT, "dass wir erstaunlich resilient sind."
Suizide seien bis jetzt nicht angestiegen, auch Depressivität nicht, und: "Wir müssen vielleicht auf bestimmte Elemente der Lebensfreude verzichten, aber wir verändern unser Menschenbild nicht."
Offensichtlich ist zumindest die Dame selber ziemlich resilient. Sie betet alle Maßnahmen herunter und hat nur einen Wunsch, dass sie uns "so in Fleisch und Blut übergehen, dass sie nicht mehr als Zumutung mit Grundrechtsqualität wahrgenommen werden."

Schach während Corona

Zum Schluss noch eine Runde Schach mit Paul Ingendaay in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG. Schach ist ja in der Ära von Corona auch problematisch geworden, jedenfalls im direkten Gegenübersitzen am Brett. Dafür hat "die Pandemie die seit zwei Jahrzehnten sich entfaltende Welt des Online-Schachs drastisch verändert."
Der Intellektuellensport wurde popularisiert, kommerzialisiert, ja vulgarisiert. Im Internet ist es ein Bezirk der Gamer-Welt geworden, wo gezockt und aufgrund steigender Einsätze auch mit Computerhilfe getäuscht wird, wie Ingendaay berichtet.
"Obwohl an der perfekten Überwachungssoftware gearbeitet wird, die komplette Zimmer im Blick behält oder gar die Augenbewegungen der Spieler misst, um den schrägen Blick auf einen verbotenen Bildschirm zu erhaschen, ist vollständige Kontrolle vorläufig illusionär, erst recht im Breitensport. Nur aus unnatürlich brillanten Zügen, die dem Ranking eines Spielers widersprechen, oder einem auffällig genialen strategischen Spielverhalten lässt sich ablesen, dass einer betrügt."
Außerdem verführt das elektronische Schach auf Distanz zum Tempospiel. Den fünffachen amerikanischen Meister Hiraki Nakamura bezeichnet Ingendaay als "Corona-Krisengewinnler par excellence", weil er in Kürzestformaten brilliert.
"Partien, die fünf Stunden dauern, sind lächerlich", sagt Nakamura. Presseschauen übrigens auch, deswegen fassen wir uns kurz.
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