Aus den Feuilletons

Kritik an der Festung Europa

Ein Dutzend Flüchtlinge drängen sich auf einem kleinen Boot im Mittelmeer, bevor sie auf das Schiff der Küstenwache gelangen können.
Auch in dieser Woche hat die italienische Marine mehr als 200 Flüchtlinge von einem überfüllten Boot im Mittelmeer gerettet. © picture alliance / dpa / Alessandro Di Meo
Von Arno Orzessek · 25.04.2015
Der Schriftsteller Navid Kermani fragt in der "FAZ" nach den Fluchtgründen der Flüchtlinge. Hauptursache für den aktuellen Anstieg der Zahlen sei der Zerfall staatlicher Ordnung in Nordafrika. Kermani kritisiert, dass Europa den Verfall nicht aufgehalten habe.
Sie kennen das, liebe Hörer: Seriöse Zeitungen nehmen das Wichtige wichtiger als das Unwichtige. Das gehört zu ihrem Markenkern.
Die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG jedoch pfiff am Montag auf das Relevanz-Gebot. Der Gegenstand ihres Feuilleton-Aufmachers war „Der Schuhabkratzer".

Wir möchten diese erlesene Geste der Gelassenheit gründlich unterstreichen:

Da wankt die Welt wie trunken zwischen finsteren Abgründen, da mobilisiert die Kultur ihr ganzes Bedeutungs-Arsenal gegen die Sinnlosigkeit des Seins, da kommt von allen Ecken und Enden Entscheidendes auf uns zu...

Aber die NZZ widmet sich ganzseitig dem „Schuhabkratzer":

„So unscheinbar er war (und ist), er gehörte früher einmal zu jedem Haus. Gleich bei der Eingangstür, rechts oder links neben dem Tor, war er gleichermaßen ein Objekt der Nützlichkeit wie auch ein Symbol der Sauberkeit. Der Schuhabkratzer war einst ein Utensil, an dem jeder reinliche Mensch auf seinem Weg von außen nach innen nicht vorbeikam. Ein kleines gebogenes, fest verankertes Eisenteil, auf das man die Sohle setzte, um sich mit einem kräftigen Ruck, einem hartnäckigen Schaben, einem gewohnheitsmäßig flüchtigen Abstreiches des Schmutzes der Straße zu entledigen",

erzählte der NZZ-Autor Bernd Noack in einem Feuilleton-Ornament, wie es wohl keine andere deutschsprachige Zeitung so prominent drucken würde.
Es war uns ein Vergnügen wie Seifenblasen-Blasen, nun aber beugen wir uns dem Relevanz-Gebot.
Unter dem polemischen Titel „Aus der Not eine Untugend machen" konstatierte Andreas Zielcke in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG:
„Immer mehr Flüchtlinge lassen im Mittelmeer ihr Leben. Ist ihre Rettung ein humanitärer Akt? Nein - Europa ist keineswegs nur moralisch, sondern auch rechtlich eindeutig zur Hilfe verpflichtet."
SZ-Autor Zielcke ist Jurist – und das las man seiner weiteren Argumentation ab:
„Während die Handelsschifffahrt [...] nur indirekt zur Rettung Schiffbrüchiger verpflichtet wird [...], obliegt es den staatlichen Marineschiffen, Polizeibooten und Hubschrauber der im Mittelmeer am Einsatz beteiligten EU-Nationen unmittelbar, Menschen in Seenot zu helfen. [...] Und diese Pflicht lässt keinerlei Unterscheidung nach Herkunft oder Zielen der in Not geratenen Boat People zu. Jeder muss gerettet werden, sei er aus lauteren oder noch so unlauteren Gründen in See gestochen. Es zählt nur die akute Not",
dekretierte der SZ-Autor Andreas Zielcke.
In der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG fragte der Schriftsteller Navid Kermani nach den Fluchtgründen der Flüchtlinge und räumte sarkastisch ein:
„Europa ist nicht für alles Elend in der Welt verantwortlich, und ich führe hier nicht die Subventionen der EU an, die die Baumwoll- oder die Zuckerindustrie in Afrika zerstören, die Zölle, mit denen wir afrikanische Erzeugnisse vom Markt ausschließen, oder den Klimawandel [...]. Die Hauptursache für den aktuellen Anstieg der Flüchtlingszahlen ist der Zerfall staatlicher Ordnung in Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens. Europa hat diesen Verfall nicht etwa aufgehalten, sondern selbst befördert, indem es über Jahrzehnte und noch inmitten der arabischen Aufstände skrupellose Tyrannen massiv unterstützte."
Das eine war die Kritik an Europa – das andere Kermanis Lob für die hiesige Zivilgesellschaft:
„Ich kann das stellvertretend für Köln sagen: Wo immer ein Flüchtlingsheim errichtet wird, bildet sich sofort eine Bürgerinitiative nicht etwa gegen, sondern für die Flüchtlinge!"
Niemals ein Flüchtlingsheim erreicht haben die meisten der osmanischen Armenier, die 1915 aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Unzählige starben auf Hungermärschen.
Seit Freitag folgen auch deutsche Politiker der – von der türkischen Regierung inkriminierten - Parole, die in der FAZ schon vorab zu Überschrift wurde: „Wir nennen es Völkermord."
In der Tageszeitung DIE WELT erklärte Dirk Schümer, wie das eine weltgeschichtliche Grauen dem anderen folgte:
„[Wenig] bekannt ist die direkte Linie vom Armenozid zur Shoah. Einer der allerersten Nationalsozialisten, Max Erwin von Scheubner-Richter, konnte Hitler exakt vom Völkermord an den Armeniern berichten, weil der Deutschbalte aus Riga die Massaker als deutscher Vizekonsul in Erzurum mit eigenen Auge gesehen hatte. [...] Man nimmt heute an, dass Hitler von diesem deutschnationalen Kriegskameraden eine folgenreiche Lektion bekam: Irgendwann wächst Gras sogar über ein Großverbrechen, wenn man das auszurottende Volk nur weit genug in den Osten deportiert. Beim Bürgerbräu-Putsch 1923 riss, tödlich getroffen, der einstige Konsul [...] den untergehakten Hitler mit zu Boden. Von Scheubner-Richter rettete dem Volksverführer mit seinem Tod das Leben – Pech für ihn, Pech für uns",
bedauerte WELT-Autor Schümer.
Wenden wir uns ab von den Schädelstätten der Geschichte, betreten wir mit der Wochenzeitung DIE ZEIT „Die Spielwiese des Denkens", die laut Ijoma Mangold unter der Adresse Facebook firmiert.
„Noch nie sind Menschen unterschiedlicher Weltanschauungsmilieus einander so nahe gerückt wie heute: nicht nur auf Hörweite, sondern bis hinein in den Ansprechradius. Bei gepflegten Abendessen galt noch stets die Regel, dass zwar gerne über Sex, aber bitte nicht über Religion und Politik zu sprechen sei [...]. Aber in jenen liquiden, expansiven, prinzipiell auf Erweiterung gestellten Facebook-Öffentlichkeiten trifft sich der libertäre Anarcho-Kapitalist viel öfter mit dem vegan-staatsgläubigen Kopftuch-Apologeten, die Gender-sensible Kulturalistin mit dem exzentrischen Law-and-Order-Katholiken."
Komplett anders sah das die SZ, in der Johannes Boie vor einer globalen Facebook-Diktatur warnte:
„Mark Zuckerberg möchte die restlichen zwei Drittel der Welt online bringen. Für diese Armen soll der Zugang sogar gratis sein. Doch davon wird am Ende nur Zuckerberg profitieren. Denn ‚Internet' bedeutet für ihn nur: Facebook."
Nun denn. Das Digitale macht auch außerhalb des Netzes Fortschritte.
Wenn Sie in der Lage sind, liebe Hörer, dann erfreuen Sie sich doch an der Botschaft aus der schönen neuen Welt, die in der WELT Überschrift wurde:
„Geschlechtsverkehr mit Robotern ab sofort möglich."
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