Aus den Feuilletons

Klassiker unter #MeToo-Verdacht

Dominique Swain und Jeremy Irons in der "Lolita"-Verfilmung aus dem Jahr 1997.
Dominique Swain und Jeremy Irons in der "Lolita"-Verfilmung aus dem Jahr 1997. © imago stock & people
Von Arno Orzessek  · 21.09.2018
Steht Vladimir Nabokov mit seinem Roman "Lolita" unter #MeToo-Verdacht? Was sagt die 79-jährige Feministin Germaine Greer zu dieser Bewegung? Und was würde Romy Schneider darauf antworten, wenn sie noch leben würde? Damit beschäftigen sich die Feuilletons.
"Lolita, Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden. Meine Sünde, meine Seele." So beginnt – wie gewiss viele von Ihnen wissen – Vladimir Nabokovs Roman von 1955. Benannt nach jener Lolita, von deren multiplem Missbrauch der Missetäter Humbert Humbert seinem Publikum in erlesener Prosa vorschwärmt.
Und nun heißt es in der Tageszeitung DIE WELT: "Klassiker unter Me-Too-Verdacht". Die New Yorker Journalistin Sarah Weinman behauptet in dem Buch "The real Lolita", Nabokov habe in seinem Roman eine echte Vergewaltigung unstatthaft ästhetisiert. Ein Indiz dafür: Nabokov hatte auf einem Kärtchen Presseberichte über Sally Horner zusammengefasst.

Lolita: Ästhetisierung einer Vegewaltigung?

Die Schülerin Sally aus New Jersey war 1948 von einem Mann mittleren Alters entführt worden; er war mit ihr durchs Land gezogen, hatte sie als seine Tochter ausgegeben, sie zeitweilig zur Schule geschickt und immer wieder vergewaltigt – genau so wie Humbert Lolita. Weinman distanziert sich von Nabokovs Roman mit den Worten: "Die Misshandlung, die Sally Horner – und andere Mädchen wie sie – erleiden mussten, sollte nicht durch blendende Prosa subsumiert werden, ganz gleichgültig, wie brillant sie ist."
Der WELT-Autor Hannes Stein jedoch führt andere Quellen an, aus denen Nabokov für "Lolita" geschöpft haben könnte, und erteilt dem Autor Absolution: "Nein, Nabokov war kein Freund von Humbert Humbert, den er einen 'eitlen, grausamen Schuft' und eine 'hassenswerte Person' nannte. Es hat nie einen zeitgemäßeren Roman gegeben als diesen." Das sei dahingestellt. Aber falls jemand "Lolita" nicht kennt: Unbedingt lesen!

Feministin Germaine Greer über #MeToo

"Mit Gewalt" überschreibt die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG einen Artikel, in dem Cathrin Kahlweit die 79-jährige australische Feministin Germaine Greer vorstellt – und zwar so:
"Über die 'Me Too'-Debatte befand sie, Frauen, die die Beine breit gemacht hätten, um in Hollywood eine Rolle zu bekommen, sollten sich nicht Jahre später über ihr Schicksal beklagen. Über Transgender-Frauen, die als Männer geboren wurden, sagt sie, diese sollten nicht als Frauen anerkannt werden, weil sie gar nicht wüssten, wie es sich anfühle und was es bedeute, eine Frau zu sein. Auch ihre Haltung zur weiblichen Beschneidung ist alles andere als Mainstream."
Von der bemerkenswerten Greer gibt es ein neues Buch: "On Rape" – also: Über Vergewaltigung –, das die SZ-Autorin Kahlweit hübsch flott zusammenfasst:
"Das Buch hat drei zentrale Thesen: Frau ist nur dann ein ewiges Opfer, wenn sie sich dazu machen lässt. Und: Die Gesellschaft versucht, Frauen einzutrichtern, dass Missbrauch das schlimmste aller Verbrechen an Frauen sei – was eine groteske Überschätzung der Bedeutung des männlichen Geschlechtsorgans zur Voraussetzung habe. Und drittens: Weil sich Vergewaltigung so schwer belegen lässt, erleiden viele Frauen ein größeres Trauma durch ein Gerichtsverfahren als durch den Akt selbst." "Starker Tobak" – meint die SZ-Autorin Kahlweit.

Am Sonntag würde Romy Schneider 80 werden

Um bei Verletzlichkeit zu bleiben: Am Sonntag würde Romy Schneider 80 Jahre alt. In der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG grübelt Christina Tilmann:
"80 Jahre: Natürlich wüsste man gern, was Romy Schneider heute zu 'Me too' zu sagen hätte oder zu Diskussionen um eine Frauenquote im Film. Noch lieber hätte man sie, wie ihre Altersgenossinnen Vanessa Redgrave, Judi Dench oder Liv Ullmann, weiter in vielen Filmen gesehen, hätte Texte von ihr gelesen oder sie im Konzert erlebt. Die Chance eines Comebacks oder einer Neuerfindung hat Romy Schneider nicht gehabt. Doch ihre Filme sind zeitlos. Nein, sie werden immer stärker."
Unterdessen berichtet Alice Schwarzer in der WELT, Romy Schneider habe in einem Gespräch 1976 auch ihre Meinung über Männer kundgetan: "Ihre so charakteristische Stimme ist dunkel und bestimmt. Sie spricht über ihre Hoffnung: Dass wir Frauen keine 'Palatschinken' bleiben und in Zukunft weniger mit Männer zu tun haben, die 'Waschlappen' sind."
Ironischerweise schreibt in selbiger WELT Tilman Krause einen "Hymnus auf den zarten Mann" – Überschrift: "Das schwache Geschlecht". Nun, wir selbst haben im ewigen Geschlechter-Drama den Überblick längst verloren. Unsere billige Kompromiss-Formel lautet wie ein Titel in der TAGESZEITUNG: "'So anders sind wir gar nicht.'"
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