Aus den Feuilletons

In Paris sind die Jüngeren wacher als in Berlin

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Porträt des Autors und Filmregisseurs Raphaël Glucksmann, aufgenommen bei einer Diskussion im TV-Sender France 2 im April 2019
Autor und Filmregisseur Raphaël Glucksmann möchte die französische Linke durch eine neue Bewegung einen. © picture alliance / abaca/Blondet Eliot
Von Hans von Trotha · 08.04.2019
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Bei den Intellektuellen in Paris ist ein Generationenwechsel zu erkennen. Doch die "neuen Träume für Europa", die in Berlin diskutiert wurden, kommen noch von den Omas und Opas – und nicht von den Hipstern, schreibt die "FAZ". Denn die schliefen wohl noch.
Liegt es an der anstehenden Europawahl? Am Brexit? Oder am Frühling? Die Feuilletons messen die Kultur derzeit vor allem an ihren politischen Debatten. "Europa ist kompliziert, Berlin aber auch", befindet etwa Paul Ingendaay in der FAZ anlässlich einer vom Deutschlandfunk übertragenen Diskussionsrunde im Rahmen der Reihe "Reden über Veränderung".

"Wo, bitte, sind die Hipster?"

Ingendaay zitiert die im Zuge der Diskussion gestellte Frage: "Wo, bitte, sind die Hipster?" Schließlich lautete das Thema: "Neue Träume für Europa". Doch statt der Hipster (Zitat: "Die liegen noch in ihren Betten, weil sie tanzen waren!") fühlten sich anscheinend eher ältere Herrschaften angesprochen (Zitat: "Ich bin ein Opa für Europa.").
Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot gab zu bedenken: "Wäre jeder Bürger der Europäischen Union vor dem Gesetz gleich, unterstünde also in wichtigen Bereichen einem allen gemeinsamen Recht, könnte Europa zusammenwachsen, ohne dass man endlose Debatten über Nation, Heimat und Identität führen müsste."

Dramatische gesellschaftliche Verwerfungen

Guérot betonte das mit Blick auf jene Orte, "wo soziale Ungleichheit zu teils dramatischen gesellschaftlichen Verwerfungen geführt hat, von der Griechenland-Pleite über den Brexit bis zum 'Gelbwesten'-Phänomen." Dazu berichtet Annabelle Hirsch in der TAZ brühwarm aus Paris:
"Vergangenen Donnerstagabend hat der Europawahlkampf in Frankreich offiziell mit einer großen Fernseh-Talkrunde begonnen. Ich schätze, man hätte sich, hätte man sie in Deutschland sehen können, kaputt gelacht. Vielleicht hätte man sich auch Sorgen gemacht. Jedenfalls hätte man besser verstanden, weshalb so viele Menschen in Frankreich desillusioniert sind, warum sie lieber, durch Gelbwesten getarnt, auf ein Wunder warten, als noch auf die Politiker und deren Spielchen zu setzen. Denn, was man ganze drei Stunden lang auf dem Sender France 2 sah, war nichts anderes als das: ein Spiel."

Philosophischer Generationenwechsel in Frankreich

In der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG bemerkt Jürg Altwegg derweil zu den Pariser Debatten:
"Die Intellektuellen sind zurück und engagieren sich im Europawahlkampf. Im Zuge der antitotalitären Aufklärung", schreibt Altwegg, "hatte die Linke mit der Überwindung des Marxismus die soziale Frage aus den Augen verloren. Der Aufstand der heimatlosen Gelbwesten ist eine Folge davon. Der Niedergang der Sozialisten – genauso wie der bürgerlichen Rechten – ermöglichte Macrons Wahl."
In Paris sind die Jüngeren offenbar schon wacher als in Berlin. So berichtet Altwegg von einem philosophischen Generationenwechsel: "Jetzt will der Sohn des bekannten Philosophen André Glucksmann die Linke 'retten'", so Altwegg. "Raphael Glucksmann, dessen Programm die linke Wiedervereinigung ist, präsentierte ein paar Kiesel, die der Vater dem Zehnjährigen von der gefallenen Berliner Mauer nach Hause mitgebracht hatte."

Ist Berlin eine Kulturmetropole?

Womit wir gedanklich und politisch schon wieder von der französischen in der deutschen Hauptstadt sind: "Wenn Berlin überhaupt den Anspruch erheben kann, eine Kulturmetropole zu sein", schreibt Willi Winkler in der konsequent berlinkritischen SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG, "dann ist der vor bald 250 Jahren begründet worden, als sich die außeruniversitäre Intelligenz zum ersten Mal in Salons um vorwiegend weibliche Gastgeber scharte. Da konnte, unbehelligt von Krone und Altar, die Aufklärung diskutiert und verbreitet werden, die Immanuel Kant von Königsberg aus verkündet hatte, da ging es um Religionsfreiheit und nicht zuletzt um die jüdische Emanzipation. Es ging natürlich auch darum, sich gegenseitig die illustersten Gäste abzujagen."

"Arbeit an unlösbaren Problemen"

Und das hat sich bis heute nicht geändert. Gerade ist Berlin dabei, illustre Gäste zu verlieren. Willi Winkler berichtet von der Schließung der sogenannten "Denkerei" am Oranienplatz, die, 2011 gegründet, just an diesem Wochenende zum Opfer des Berliner Immobilienbooms wurde: "Dit it iss Balin!" Ziel der "Denkerei" war die "Arbeit an unlösbaren Problemen", wie sie "Gründervater Bazon Brock den größten Gelehrten ebenso wie der türkisch-schwäbischen Laufkundschaft in Kreuzberg versprochen hatte".
Immerhin gibt der von Winkler so genannte "Wortprägemeister" Bazon Brock zum Abschied vom Oranienplatz den Slogan aus: "Denken ist angewandter Heroismus." Hoffen wir in diesem Sinne auf eine schöne ruhige neue Adresse für die "Denkerei" – und auf möglichst viele Helden im Europawahlkampf – denkende Helden, wohlgemerkt.
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