Aus den Feuilletons

Imagination und Realität

Mittlerweile wurde der für die in der letzten Woche verschickten Paketbomben verantwortliche Attentäter gefasst. Kaube schreibt in der "Welt", der leidenschaftliche Trump-Anhänger habe sich zuvor in der "virtuellen Weltkneipe ausgetobt".
Mittlerweile wurde der für die in der letzten Woche verschickten Paketbomben verantwortliche Attentäter gefasst. Kaube schreibt in der "Welt", der leidenschaftliche Trump-Anhänger habe sich zuvor in der "virtuellen Weltkneipe ausgetobt". © imago / McPGAN
Von Tobias Wenzel · 27.10.2018
Die Feuilletons der Woche haben sich mit der Wirklichkeit und ihrer Alternative beschäftigt: Mit Flüchtlingen und Zombies, Trump und einem Messias, Paketbomben und spalterischer Hetze und letztlich mit einem Nashorn, das als Gottesbeweis dienen muss.
Hereinspaziert in die Feuilleton-Manege! Zu bestaunen: ein indisches Nashorn, Clowns, Zombies, ein militärliebender Messias und eine virtuelle Weltkneipe! Hereinspaziert in die Kulturpresse-Show aus einer Woche Horror und Sensationen! Von 1744 bis zu ihrem Tod 1758 wurde Clara, ein indisches Panzernashorn, überall in Europa als Attraktion präsentiert. Daran erinnerte Axel Christoph Gampp in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG.

"Sind Sie, mein Herr, das Rhinozeros?"

Gampp zitierte Casanova, der mit einer Marquise das Nashorn besuchte: "Die geistreiche Marquise ging vor uns. Am Ende der Allee, wo das Tier, wie man uns gesagt hatte, sich befinden sollte, saß ein Mann, in afrikanischer Tracht, war allerdings sehr dunkel von Hautfarbe und riesig dick; trotzdem hatte er doch menschliche Gestalt und sogar ausgesprochen männliche, und die schöne Marquise hätte sich eigentlich nicht irren dürfen. Aber in ihrer Gedankenlosigkeit geht sie auf ihn zu und fragt ihn: 'Sind Sie, mein Herr, das Rhinozeros?'"
Brasilien habe ein Rassismusproblem, das zeige sich gerade in der Krise, schrieb Paul Ingendaay in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG: "Wie die großen Ballungsräume zeigen, verschanzt sich das weiße Brasilien in klimatisierten Einkaufszentren und überlässt die Straße, die von 18 Uhr an im Dunkeln liegt, dem 'Volk'. Um dabei zu sein, wenn der Umschwung kommt, werden viele aus der Mittelklasse ihre Stimme Bolsonaro geben."

Jair Messias Bolsonaro

Dem Präsidentschaftskandidaten Jair Messias Bolsonaro. Der zweite Vorname, Messias, sei, journalistisch gesehen, eine Steilvorlage, befand Ingendaay. Er erinnerte auch daran, dass Bolsonaro "vor fünfzehn Jahren einer Parlamentsabgeordneten zurief, sie sei zu hässlich, um vergewaltigt zu werden", dass er "die Diktatur der Demokratie vorzieht" und dass "er lieber einen toten als einen schwulen Sohn hätte".
Bolsonaro sei lange "kaum mehr als ein extremistischer Militär-Lobbyist, ein Verrückter, ein Clown" gewesen. Nun jedoch, unterstützt von der Kirche, sehen viele in ihm einen politischen Messias. Der wird wohl an diesem Sonntag zum neuen Präsidenten Brasiliens gewählt. Was dann folgt, ist laut Ingendaay ungewiss: "Die Öffentlichkeit hat über Bolsonaros Temperament und über den Zusammenhang von Reden und Nachdenken bei ihm noch keine belastbaren Daten. Er selbst vermutlich auch nicht. Mit Donald Trump ging es der Welt vor zwei Jahren ja ähnlich, und dann wurde es mindestens so schlimm wie befürchtet."

Der Flüchtlingsmarsch durch Mexiko

Trotz Trump laufen nun tausende von Menschen aus Zentralamerika, vor Armut und Gewalt flüchtend, in Richtung USA. Das Urbild dieses Marsches durch Mexiko sei "der biblische Exodus", schrieb Richard Kämmerlings in der WELT. Er fragte auch nach Wirkung und Instrumentalisierung der heutigen Flüchtlingsmärsche. "Die stumpf marschierenden Zombiehorden in der populären Fernsehserie 'The Walking Dead' bringen das Unbewusste der westlichen Wohlstandsgesellschaften auf den albtraumhaften Punkt", schrieb Kämmerlings.
"Der populistische Topos vom 'Kontrollverlust' findet sein Pendant als Horrorserie." Der Marsch erscheine zwar als "machtvoll", so, als könnten diese Menschen jede Grenze überwinden: "Weil aber die Ängste proportional zu dieser imaginierten Macht wachsen, scheint zur Abwehr der Gefahr jedes Mittel recht. Der Vorstellungskraft könnte Waffengewalt gegenübertreten. Einem Donald Trump, dem Imagination und Realität immer mehr in eins fallen, ist alles zuzutrauen".

Ein Schriftsteller unter Polizeischutz

"Wie liest man unter Polizeischutz?" Das fragte die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG den in Hessen lebenden Schriftsteller Matthias P. Gibert. Der hatte einen Krimi über einen fiktiven türkischen Staatspräsidenten geschrieben, der einem Agenten den Auftrag gibt, einen Dissidenten in Deutschland zu ermorden. Es landete – hier sind wir wieder in der Realität – ein Molotowcocktail im Eingang des Hauses, in dem der Krimiautor wohnt. Am Anschlagsort wurden Fotos von Präsident Erdogan gefunden. Die Folge: Polizeischutz für den Autor bei seinen Lesungen.
Jürgen Kaube versucht nun in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN SONNTAGSZEITUNG die Paketbomben einzuordnen, die Barack Obama, Hilary Clinton, George Soros, Robert de Niro und andere Gegner Donald Trumps erhalten haben. Der mittlerweile gefasste mutmaßliche Attentäter, ein leidenschaftlicher Trump-Anhänger, habe sich zuvor in der "virtuellen Weltkneipe ausgetobt". Kaube meint damit die sozialen Medien. Trump sei als "Twitterer, der Präsident geworden ist", ein Symptom unserer Zeit.

Willkommen im hirnlosen Obskurantismus

Letztlich gehe es nicht um die sehr unterschiedlichen Objekte des Hasses wie Merkel, Frauen, Juden: "Das Verachtenkönnen selbst scheint genossen zu werden, der Pranger des Hohns und die kommunikative Fuchsjagd." Willkommen im hirnlosen Obskurantismus!, könnte man ausrufen und sich einen Strick nehmen. Aber Michael Sandel, der sich als moderner Sokrates versteht, machte Hoffnung. "Das Denken hat seine besten Zeiten nicht dann, wenn Ruhe und Frieden herrschen", sagte er im Interview mit der ZEIT. "Es steht dann in Blüte, wenn Gesellschaften in Aufruhr sind."
Denken und philosophieren – da wären wir wieder beim Panzernashorn Clara, das Mitte des 18. Jahrhunderts als tierische Sensation durch Europa gekarrt wurde. "Auch philosophisch gab Clara etwas her", schrieb nämlich Axel Christoph Gampp in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG. "Maupertuis, der Direktor der königlichen Akademie der Wissenschaften in Berlin, sah in ihr einen Beweis für Gottes distanzierte Einwirkung auf die Schöpfung. Denn wieso sei der Panzer des Nashorns flexibel, der der Schildkröte aber nicht, sollten beide unmittelbare Resultate göttlicher Schöpfung sein? Voltaire kommentierte den Gedanken sarkastisch: Maupertuis habe Gott in den Falten des Nashorns gefunden!"
Mehr zum Thema