Aus den Feuilletons

Im Schützengraben der Gedenkkultur

Blick in die Ausstellung "Diktatur und Demokratie im Zeitalter der Extreme - Streiflichter auf die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert" im Paul-Löbe-Haus
Blick in die Ausstellung "Diktatur und Demokratie im Zeitalter der Extreme - Streiflichter auf die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert" im Paul-Löbe-Haus © Bundesstiftung Aufarbeitung
Von Gregor Sander · 29.04.2014
Urs Hafner kritisiert in der "Neuen Züricher Zeitung" die zahlreichen Internetangebote zum Jubiläum des Ersten Weltkriegs als zu wenig nutzerfreundlich. Die "Zeit" und die "Welt" hingegen begeistern sich für den Film "Die Erfindung der Liebe".
Am Donnerstag kommt ein Film in die Kinos, der eine sehr eigene Geschichte hat. Nach der Hälfte der Drehtage von "Die Erfindung der Liebe" starb vor drei Jahren die Hauptdarstellerin Maria Kwiatkowsky. Mit nur 26 Jahren an einer Überdosis Kokain. In der Wochenzeitung DIE ZEIT erzählen Stephan Lebert und Wolf Wiedemann-Schmidt, wie das Werk nun doch ein Ende fand:
"Regisseurin Lola Randl hat den bereits abgedrehten Rumpf des alten Films beibehalten: Eine Schauspielschülerin (Maria Kwiatkowsky) und ihr Freund haben es auf das Vermögen einer todkranken Millionärin abgesehen, es entspinnt sich ein Drama über echte und falsche Liebe. Doch zusätzlich gibt es nun noch einen Film im Film, der auf ziemlich schräge und witzige Art die Katastrophe verarbeitet, die während der Dreharbeiten geschah: den Tod der Hauptdarstellerin. In einer fiktiven Rahmenerzählung wird sie einfach durch eine Praktikantin ersetzt. 'Es ist ein zerstörter Film, der sich zu einem neuen zusammensetzt', sagtRegisseurin Randl. Ein Experiment, das gelungen ist."
Auch Peter Zander von der Tageszeitung DIE WELT ist begeistert:
"'Die Erfindung der Liebe' wird so zu einem ganz neuen, viel tieferen, wilderen, besseren Film. Ein Glanzstück des Genres Film-im-Film."
"Materialschlacht 2.0"
In der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG amüsiert sich Urs Hafner über unser Erinnern, das wir nur allzu gerne an runde Zahlen hängen:
"Eben noch war der Erste Weltkrieg in den Gedenkkulturen eher wenig präsent. Er stand im Schatten des Zweiten Weltkriegs, der mit der Ungeheuerlichkeit des Holocausts verbunden ist. Heuer nun, im hundertsten Jahr nach seinem 'Ausbruch' 1914, ist der Erste Weltkrieg zum großen Thema geworden. Er war, wie wir nun wissen, die 'Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts'."
Und der wird reichlich gedacht. Vor allem im Internet. "Materialschlacht 2.0" überschreibt Hafner seinen Artikel, für den er sich durch die verschiedenen Seiten geklickt hat.
Zum Beispiel durch das elfsprachige Webportal der Europeana:
"Das Portal, an dem über 20 europäische Staaten beteiligt sind, ermuntert Institutionen wie Privatpersonen, Materialien und Archivalien zu digitalisieren und ins Netz zu stellen – Fotos, Landkarten, Briefe, Zeichnungen, Bücher, Flugblätter, Schützengraben-Zeitungen und anderes mehr. Mittlerweile sind 400.000 Dokumente aus zehn Nationalbibliotheken, fast 700 Stunden Filmmaterial aus 20 Filmarchiven und 90.000 private Dokumente jedem Interessierten frei zugänglich."
Doch zufrieden ist Urs Hafner weder mit dieser Website, noch mit der des Deutschen Historischen Museums oder mit Clio-Online, dem führenden deutschsprachigen Fachportal für die Geschichtswissenschaften. Überall findet er des Guten zu viel:
"Das Internet bietet stupende technische Möglichkeiten, doch eine Nutzung des Mediums, die unseren Rezeptionsbedürfnissen entgegenkommt, ist noch immer rar. Es fehlen Institutionen, die im Netz das leisten, was die Qualitätsverlage auf dem Büchermarkt bewirken."
Bedeutender Wegbegleiter der Neuen Musik
Die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG betrauert den Tod des Musikkritikers Reinhard Oehlschlägel:
"Er war der Kritiker-Universalist der musikalischen Avantgarde."
Mit dieser Wertschätzung beginnt Wolfgang Schreiber seinen Nachruf:
"Drei Jahrzehnte, bis 2001, arbeitete er als Redakteur für neue Musik beim Deutschlandfunk, nachdem er nacheinander bei beiden großen Frankfurter Tageszeitungen Musikkritiken publiziert und damit öfters schrille Kontroversen ausgelöst hatte."
1983 gründete Reinhard Oehlschläger auch die "MusikTexte", die wohl wichtigste deutsche Zeitschrift für neue Musik. Gerhard Koch beschreibt den Kritiker in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG so:
"Bei aller Akribie war Oehlschlägel kein Mann des 'interesselosen Wohlgefallens', sondern des objektiven Parteiergreifens. Für John Cage beanspruchte er durchaus Deutungshoheit, den ihm allzu arriviert Scheinenden gegenüber war er kritisch."
Oehlschläger starb gestern im Alter von 77 Jahren in Köln.