Aus den Feuilletons

Im Maschinenraum des Denkens

06:09 Minuten
Der Philosoph Jürgen Habermas steht an einem Rednerpult  und spricht ins Publikum.
Jürgen Habermas wird in den Feuilletons kurz vor seinem 90. Geburtstag ausführlich geehrt. © Janine Schmitz / photothek / imago-images
Von Arno Orzessek · 15.06.2019
Audio herunterladen
Die "Zeit" widmet dem Soziologen und Philosophen Jürgen Habermas anlässlich seines 90. Geburtstags fast das komplette Feuilleton und sieht in ihm ein "ästhetisches Phänomen". In Gestalt der Philosophin Ágnes Heller gibt es aber auch kritische Worte.
Heute beginnen wir unseren Wochenrückblick mal anders als sonst. Nämlich nicht locker-flockig, so zum gemütlichen akustischen Weg-Schnabulieren, sondern mehr zum Mitdenken. Stellen Sie also bitte Ihre geistige Rückenlehne für einen Moment senkrecht!
Unter der Überschrift "Die Unfähigkeit zur Freiheit" behauptete die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG: "In Deutschland herrscht ein zunehmend repressives Klima". Klaus-Rüdiger May diagnostizierte allen Ernstes eine "Renaissance des Totalitären". "Gott bewahre!", dachten wir. Schließlich werden 70 Jahre Bundesrepublik zumeist als recht ordentliche Absetzbewegung von der NS-Zeit gedeutet. Ist es damit etwa vorbei?

Kulturpessimismus in der NZZ

Nun, hören Sie bitte genau hin, worin Klaus-Rüdiger May die "Renaissance des Totalitären" zu erkennen glaubt: "Deutsche Medien erheben gegenwärtig die Jugend zu einer Art generationgewordenem Willen, der sich die Zukunft nicht von den Alten zerstören lassen möchte. Nun ist die Radikalisierung der Jugend zur Durchsetzung bestimmter politischer Interessen in der Geschichte nicht neu. Vom sogenannten Kinderkreuzzug des Mittelalters über die Langemarck-Generation im Ersten Weltkrieg bis in die Zeiten von Hitlerjugend oder dem kommunistischen Jugendverband FDJ in der DDR wurde Jugend in ihrer Begeisterungsfähigkeit missbraucht. In den Archiven existieren noch die Bilder davon, als Studenten im Braunhemd in die Hörsäle einmarschierten und gegen jüdische Professoren lärmten, im Namen der Jugend die Liberalen zum Verstummen bringen wollten."
Puh! Ist das so? Instrumentalisieren totalitäre "deutsche Medien" etwa die Greta Thunbergs und Rezos für ihre antiliberalen Interessen so wie einst Hitler die Braunhemden für seine Missetaten?
Nein, Klaus-Jürgen May! Was Sie da in der NZZ verzapft haben, ist beides zugleich: groteske Geschichtsklitterung und irre Verschwörungstheorie. Vielleicht hülfe es Ihnen, "Verschwörungstheorien früher und heute" in Kloster Dalheim bei Paderborn zu besuchen.
Laut SÜDDEUTSCHE ZEITUNG eine ganz "ausgezeichnete Ausstellung" - von der die SZ übrigens den schönen Satz mitbrachte: "'Ich leide doch nur unter Verfolgungswahn, weil sie mich umbringen wollen.'"

Parallelen zwischen Georg Büchner und einem Youtuber

Aber noch einmal zurück zum Umgang der deutschen Medien mit der Jugend. In der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG fixierte der Literaturwissenschaftler Roland Borgards Ähnlichkeiten zwischen dem Youtuber Rezo und Georg Büchner - Sie wissen schon, "Woyzeck", "Dantons Tod" und so, bald 200 Jahre her.
"Was Büchner und Rezo anprangern, ist nicht allein das Handeln der Regierenden, sondern die große Kluft, die zwischen ihren Ansprüchen und ihren Taten klafft. Deshalb war Büchner und ist auch Rezo nicht sonderlich daran interessiert, mit den Regierenden zu reden. An dem, was die Regierenden sagen, ist gar nicht so viel auszusetzen. Es mangelt an Taten, nicht an Worten. Tut etwas! Tut das, was ihr selbst sagt! Und tut es jetzt!"
Roland Borgards über Rezo und Büchner in der FAZ.

Ein Philosoph, der wie ein Künstler aussieht

Handeln und Reden, das beherrscht er auch - aber am besten beherrscht er das Denken: der Soziologe und Philosoph Jürgen Habermas, der am kommenden Dienstag 90 Jahre alt wird. Die Wochenzeitung DIE ZEIT widmete dem Jubilar unter dem Titel "Ein genialer Typ" fast ihr gesamtes Feuilleton. Und siehe da! Karl-Heinz Bohrer erhob Jürgen Habermas, man käme von allein nicht drauf, zum "ästhetischen Phänomen".
"Wie? Der schärfste Kritiker des Ästhetikers Nietzsche soll ein ästhetisches Phänomen sein?", atmete Bohrer, angefasst von seiner eigenen These, tief durch und konstatierte: "So ist es! Das fängt schon damit an, dass Habermas wie ein Künstler aussieht. Er könnte ein Maler sein, ein Dichter sein, eine Erscheinung, von der man Unerwartetes erwartet, die überrascht. Dem entspricht eine bei seinen philosophischen Zeitgenossen - sei es Niklas Luhmann oder Dieter Henrich - unvorstellbare Eigenschaft: die Neigung zu metaphorisch ausgestatteten Zornausbrüchen, zur explosiven, blumigen Schmährede, wenn es sich denn so ergibt - öffentlich, aber auch sehr gerne privat. Impulsivität! Nicht bloß, weil er ein Rheinländer ist."
Karl Heinz Bohrer, originell wie meistens, in der ZEIT

Ein produktives Leben im Dienste der Aufklärung

In der die selbst gerade 90jährige ungarische Philosophin Agnes Heller im Interview einen anderen Akzent setzte: "Ich habe nur gute Erinnerungen an ihn. Ich respektiere und liebe ihn. Jürgen Habermas ist in jeder Situation ein anständiger Mensch und ein anständiger Bürger." Aber eine Agnes Heller wird in ihrem Alter, falls denn je, nicht mehr blind vor Liebe, und sei es vor Liebe für Habermas. Deshalb fand sie auch kritische Worte:
"Jürgen Habermas glaubt an die Rationalität, das ist einfach schön in einer Welt, die von nichtrationalen Instinkten beherrscht wird. Aber mit Habermas' Projekt, die Aufklärung zu radikalisieren oder zu Ende zu führen, hatte ich immer Schwierigkeiten. Welche Aufklärung denn? Um es im Bild des Doktor Faustus zu fragen: Ist die Aufklärung der Teufel, oder ist sie die Erlösung? Habermas gewichtet den Widerspruch innerhalb der Aufklärung nicht, er will ihn im Grunde nicht wahrnehmen. Aber man kann nicht alle Widersprüche versöhnen."
Wir halten mit dem Philosophen und ZEIT-Autor Martin Seel fest, dass Jürgen Habermas sein Leben unerhört produktiv "im Maschinenraum des Denkens" verbracht hat, vertiefen uns aber nicht mehr mit der TAGESZEITUNG in "Die großen Kämpfe der Theorie", die Habermas oft als Sieger sahen.
Sondern erwähnen, letzter Themenwechsel, noch rasch in aller Kürze: Renè Pollesch wird ab 2021 Intendant der Berliner Volksbühne. In der FAZ zitiert Irene Bazinger Polleschs Maxime "Die Praxis ist die Message" - und kommentierte: "Die Idee mit der Praxis ist gut - wie gut, wird die Praxis beweisen." Wow! Das war so pfiffig formuliert, da kommen wir jetzt nicht mehr drüber.
Deshalb bleibt uns nur, Ihnen einen angenehmen Sonntag zu wünschen. Praktizieren Sie Ihre besten Ideen!
Mehr zum Thema