Aus den Feuilletons

Historische Mythen und nationales Gedöns

Jubelnde Anhänger der kroatischen Partei HDZ schwenken ein Wahlplakat
Anhänger der rechtskonservativen kroatischen Partei HDZ © picture alliance / dpa / Antonio Bat
Von Hans von Trotha |
Ein Gespenst geht in Europa um, der aggressive Nationalismus. In Kroatien zum Beispiel diene die Geschichte als zentrale Sinnstifterin, wobei die eigene Nation ausschließlich als Opfer beschrieben werde, kritisiert der "Tagesspiegel".
Christian-Specht-Fans unter den TAZ-Lesern müssen erstmal warten: "Meine Kolumne", so der Autor, "fällt in den nächsten fünf Wochen aus, weil wir die Seite für die EM-taz brauchen. Nach der EM treffen wir uns aber wieder wöchentlich. Und dann ist England Europameister", hofft Specht – aber womöglich gar nicht mehr in Europa, der Brexit vielleicht schon besiegelt. Denn ein Gespenst geht um in Europa. Es ist das Feuilleton-Thema des Tages: der Nationalismus.
Der hat immer viel mit Geschichte zu tun. "Wie in Kroatien und Serbien die Geschichte umgedeutet und der Nationalismus befeuert wird", erläutert Marie-Janine Calic im TAGESSPIEGEL:
"Seit 1990 der ehemalige Partisanengeneral und Historiker Franjo Tudjman an die Staatsspitze Kroatiens trat, ist die Revision der Geschichte im Gang. … Der Kampf um die richtige Deutung der Geschichte in allen Nachfolgestaaten spiegelt die schwierige Identitätssuche nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems und dem gewaltsamen Zerfall Jugoslawiens. Seit der Vielvölkerstaat in den 80er-Jahren in die Krise kam, suchen die Protagonisten der unabhängigen Nationalstaaten nach historischen Bezugspunkten ihrer Politik. Auch im Nachbarland Serbien dient die Geschichte als zentrale Sinnstifterin. … Bis heute gedeihen Revisionismus und historische Mythen in einer Kultur der Leugnung und Ausgrenzung, die die eigene Nation ausschließlich als Opfer, die andere hingegen kollektiv als Übeltäter ansieht."
Andreas Zielcke geht das Thema in der SÜDDEUTSCHEN analytisch an. Was, fragt er, macht den Nationalismus "zu einem Fremdkörper im Nationalstaat?" Auch er betont die Bedeutung der Geschichte:
"Alles, was durch Vergangenheit bestimmt ist – Herkunft, Sprache, Ethnie, kulturelle Formen, Religion –, gilt als dem freien Willen entzogen. Erst durch diese immer schon vorgeprägte Konvergenz der Einzelwillen scheint es erträglich, sich dem Mehrheitswillen auszuliefern. Es ist die Ideologie eines unschuldigen, weil historisch vorgegebenen Konformismus. Nationalisten radikalisieren diese (frei nach Leibniz) prästabilisierte Harmonie: Je umfassender man die Bürger auf die Verbindlichkeit der – patriotisch mystifizierten – Vergangenheit verpflichtet, desto stärker ist Zukunft vorgeschrieben."
"Wer hätte je zuvor gedacht", seufzt Zielcke, "dass sich Geschichte derart erfolgreich instrumentalisieren lässt, um die politische Freiheit einer Gesellschaft zu disziplinieren, die sich der Zukunft zuwendet?"

"Die Türkei gehört nicht Erdoğan"

Wohin nationalistisches Gedöns führen kann, lässt sich in der Türkei beobachten, deren Staatschef neuerdings sogar meint, Türken ließen sich per Bluttest identifizieren. Die FAZ bringt ein Gespräch mit Can Dündar, Chefredakteur der türkischen Tageszeitung "Cumhuriyet". Der ruft trotzig: "Die Türkei gehört nicht Erdoğan, sie ist unser Land!" Dündar hat über einen Waffendeal des türkischen Geheimdienstes berichtet und soll dafür ins Gefängnis. Er sagt:
"Unter diesen Bedingungen können wir kaum arbeiten. Ein Damoklesschwert hängt über uns. Zensur, Selbstzensur, Drohungen, Gerichtsverfahren, Angriffe – das sind in der Summe Wolken der Furcht, die über dem Land hängen. … Das Gericht gab mir mit dem Urteil meinen Pass zurück. Sie wollen wohl, dass ich gehe – um die Angelegenheiten für die Regierung und für mich beizulegen. Ich bleibe aber und kämpfe. Das ist unser Land, und ich will nicht, dass es eine Diktatur wird."
Das ist patriotischer Kampf gegen Nationalismus. Die TAZ bekämpft den Nationalismus in Europa mithilfe einer Kulturtechnik, die früher untrennbar mit großen Sportturnieren verbunden war: dem Sammelalbum.
"Zeit, dass sich was dreht", steht über diesem TAZ-Album zur EM, in das man Bilder aus der aktuellen Ausgabe einkleben soll, alles Beispiele für europäischen Nationalismus von Marine le Pen, der "Mutter aller Rechtsaußen in Europa" bis Beatrix von Storch, der "Betschwester der AfD".
"Sammeln Sie 24 Gründe gegen 24 Länder", ruft die TAZ-Kultur ihren Lesern zu. Man kann sogar etwas gewinnen: "Ein Trikot der schottischen Nationalmannschaft, Größe XL." Im Nachspann erläutert die Redaktion beschwichtigend: "Die dürfen Sie ruhig unterstützen, denn die Schotten sind nicht dabei."
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