Aus den Feuilletons

Gut gelaunt ins neue Jahr

06:22 Minuten
"Lachende" Sonnenblumen stehen auf einem Feld.
Durch ihre sonnenähnliche Blütenform verbreiten Sonnenblumen beim Menschen stets gute Laune – vor allem nun, da die Apokalypse ausbleibt, glaubt man der "NZZ". © Andreas Lander / dpa-Zentralbild
Von Arno Orzessek · 04.01.2020
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Die Feuilletons der Woche haben das vergangene Jahr mit Rückblicken gewürdigt und das neue Jahr mit Ausblicken und Prognosen eingeläutet. Die „NZZ“ stach dabei besonders hervor. Sie verkündete: "Der Weltuntergang findet nicht statt."
In der vergangenen Woche ging das alte Jahr bekanntlich von uns, dafür erblickte nach guter Gewohnheit ein neues Jahr das Licht der Sonne. Und rund um dieses Ereignis taten sich die Feuilletons wie alle Jahre wieder mit Rückblicken, Ausblicken und Prognosen hervor. Hier die wichtigste Prognose: "Der Weltuntergang findet nicht statt", versprach die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG ihren Lesern.
Munitioniert mit Thesen des US-amerikanischen Ökonomen Andrew McAfee, beschrieb der NZZ-Autor Markus Schär, "wie die Menschheit gelernt hat, das Wachstum von Ressourcenverbrauch und Umweltzerstörung zu entkoppeln." Hat sie das wirklich? Parteigänger Greta Thunbergs dürften sich die Haare raufen. Markus Schär indessen unterstrich, dass McAfee kein Schönfärber ist:
"Andrew McAfee teilt die Sorgen der Apokalyptiker von heute, dass der Klimawandel die Menschheit vor grosse Probleme stelle. Aber er glaubt, dass sie sich lösen lassen, dass also das Leben für die grosse Mehrheit der Weltbevölkerung immer besser wird. Darauf nimmt er Wetten an." Übrigens: Wir selbst würden nicht gegen McAfees Prognose wetten.

Jugendliche Liebe zum Cruisen

Als hätte auch die TAGESZEITUNG für eine Ausgabe die Nase voll gehabt von der waltenden öko-apokalyptischen Depression, widmete sie zwei ganze Seiten den Fotos von Claudia Neubert. Fotos, die nichts anderes zeigen als autoverliebte junge Norweger, alte fette Limousinen und ornamentale, per Burn-out in den Asphalt gebrannte Reifenspuren. Wer solche hinterlässt, ist ein sogenannter "Råner" – ein Wort, das man laut der TAZ-Autorin Franziska Seyboldt nicht übersetzen kann. Tut man's aber doch, heißt es ungefähr: "Jugendlicher, der sinnlos mit dem Auto herumfährt." Die sonst umweltbesorgte TAZ gönnte den "Råneren" die nachsichtige Überschrift: "Sie sind die Coolsten, wenn sie cruisen."

Deichkind - "Primaten im Weltraum"

Den coolsten Pop-Alben des Jahres 2019 widmete die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG noch einmal kurze Kritiken. Dem Album "Wer sagt denn das?" der Hamburger Band Deichkind bescheinigte die SZ, es klinge, "als würden ein paar sehr talentierte Primaten auf Ölfässern im Weltraum Hip-Hop-Beats spielen" – was, bitteschön, als größtmögliches Lob zu verstehen war.
Wir selbst – wir bekennen es zu unserer Schande – hatten Deichkind bis dato nicht auf dem Schirm und lernten in der SZ umso vergnügter folgende Zeilen aus dem Titel-Song kennen: "‚Alexa und Siri, die Cloud und dein Boss / Die stille Post und die Stimm'n in dei'm Kopf / Der Guru, die Trainer, der TÜV und der Mob / Der hat's von Tinder und die ham's von Gott'".

Der Bürger, die Böller und die Eliten

Zu Silvester wurde erneut, na klar, über Nutzen und Nachteil der Böllerei nachgedacht. Die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG tat's unter der originellen Überschrift "Lass krachen!":
"Überhaupt, Verbrenner", deklamierte Niklas Maak: "Das zwanzigste Jahrhundert war eines, in dem Wohlbefinden sich durch Qualm ausdrückte: Wo die Schlote der Fabriken rauchten, gab es Arbeit, am knisternden Ofen war‘s gemütlich, und der Marlboro-Mann hatte mit der Zigarette ein tragbares Lagerfeuer vor der Nase. Für den modernen Ästheten war der ephemere Glanz des kubischen Kanonenschlags aufregender als der Kubismus, der Reibkopfböller schöner als die Nike von Samothrake; für den souveränen Bürger war der Knaller, wie das Auto, vor allem ein Beweis dafür, dass er die einst den Eliten vorbehaltenen Instrumente zur Herstellung von Krach, Licht und Tempo selbst in der Hand hielt."
Soweit der FAZ-Autor Niklas Maak, der um des rhetorischen Feuerwerks willen manchen Unsinn verzapfte. Ein kubischer Kanonenschlag etwa glänzt nicht, er detoniert dumpf und ist dem modernen Ästheten ein Ohrengraus.

Und weiter geht's mit Peter Handke

Mitten hinein ins anschwellende Silvester-Donnern formulierte die NZZ "sieben fromme Wünsche an das neue Jahr". Da der NZZ-Autor Rainer Moritz Literaturkritiker ist, bezog sich einer seiner Wünsche auf die Debatte um Peter Handke:
"Es war faszinierend zu sehen, dass wir in einer Welt voller Menschen leben, die seine Schriften in- und auswendig kennen und über das richtige historische Bewusstsein verfügen. Die weniger durch eigene Werke als durch starke Meinungen auffällig gewordene Jagoda Marinić nannte Handke den ‚Bernd (!) Höcke des Literaturbetriebs‘ – was an Dümmlichkeit kaum zu überbieten ist. 2020 sollte die Stockholmer Akademie einen unbekannten ostafrikanischen Autor mit einwandfreiem Charakter küren."
Sehr sarkastisch: Rainer Moritz in der NZZ, der übrigens hervorhebt, anders als Jagoda Marinić, zu wissen, dass Björn Höcke mit Vornamen nicht "Bernd" heißt.

Beethovens Liebe zu seiner Mutter

Was immer das neue Jahr sonst noch wird – es wird auf jeden Fall ein Beethoven-, Hölderlin-, Hegel- und Paul-Celan-Jahr. "Wer aber brachte sie zur Welt?", fragte die SZ in dem Artikel "Mütter und Söhne", in dem Ludwig van Beethoven mit den rührenden, heutzutage vielleicht allzu sentimental klingenden Worten zitiert wird: "'Sie war mir eine so gute liebenswürdige Mutter, meine beste Freundin; O! Wer war glücklicher als ich, da ich noch den süßen Namen Mutter aussprechen konnte, und er wurde gehört, und wem kann ich ihn jetzt sagen?'"
Wenn wir uns korrekt erinnern, hatte die Wochenzeitung DIE ZEIT seit dem 90. Geburtstag von Jürgen Habermas kein monothematisches Feuilleton mehr ausgeliefert. Beethoven aber hat sie nun ein solches gewidmet. Thea Dorn behauptete: "Beethoven war alles zugleich: Exzentrisch und massentauglich, klassisch und romantisch, monumental und intim." Aber "er war kein Heros!", schränkten die Forscherinnen Birgit Lodes und Melanie Unseld zwei ZEIT-Seiten weiter ein.

Sahra Wagenknechts Liebe zu Beethoven

Unter den privaten Bekenntnissen stach Sahra Wagenknechts "Ich liebe Beethoven" heraus. Man erfuhr Eminentes: Wagenknecht hat auf ihrem Handy den Weckton durch die "sanfte, geradezu zärtlich umarmende Melodie von Beethovens Klavierstück 'Für Elise'" ersetzt. Im Übrigen moserte Wagenknecht in der ZEIT über zu schnell gespielte moderne Interpretationen und endete mit Seufzer: "Eine Gesellschaft, die Beethoven wieder spielen kann, wäre in vieler Hinsicht ein lohnendes politisches Ziel."
Das mag sein oder nicht. Was nun 2020 insgesamt angeht, haben wir persönlich, was wir Ihnen ebenfalls empfehlen – nämlich, mit einer SZ-Überschrift: "Große Erwartungen".
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