Aus den Feuilletons

Großes türkisches Kino

Die Schauspielerin Melisa Sözen als "Nihal" in dem Film "Winterschlaf"
Die Schauspielerin Melisa Sözen als "Nihal" in dem Film "Winterschlaf" © picture alliance / dpa / Foto: Nuri Bilge Ceylan
Von Maximilian Steinbeis · 10.12.2014
In Cannes wurde der türkische Film "Winterschlaf", in dem es um einen patriarchalen Hotelbesitzer in den Bergen Anatoliens geht, ausgezeichnet. Und auch die "Süddeutsche Zeitung" sagt: ein "echtes Opus Magnum".
"Sie werden es nicht drucken", sagt der Adonis seiner Interviewerin Iris Radisch von der ZEIT. "Es ist zu hart."
84 Jahre ist der in Paris lebende Syrer alt, laut ZEIT
"der bedeutendste Dichter der arabischen Welt", und die "Renaissance der weltoffenen arabischen Kultur" war sein großer Lebenstraum.
"Für mich ist es eine große Verzweiflung", sagt der Dichter und prognostiziert einen "neuen hundertjährigen Krieg" zwischen den "Muslimen, mit dem einzigen Ziel, die innere Kraft des Islams völlig zu zerstören."
Und was ist es, wovon er glaubt, dass die ZEIT es nicht drucken würde (sie tut es natürlich doch)?
"Europa unterstützt das." Der Westen, sagt der Dichter, stehe im "Konflikt zwischen denen, die den Glauben zur Privatsache erklären wollen, und denen, die einen religiösen Staat bilden wollen, (…) auf der Seite der Religiösen. (…) Man will nicht, dass sich diese Welt befreit."
Wer nach Gegenargumenten sucht, dem fällt vielleicht Timbuktu ein, die Wüstenstadt in Mali, aus der französische Truppen vor knapp zwei Jahren die Islamistenmilizen vertreiben halfen. Timbuktu ist Name und Schauplatz eines neuen Films, der das Regime der Islamisten dokumentiert, und die Rezensenten schlichen sehr bedrückt aus dem Vorführsaal.
"Eine vielstimmige Allegorie, die von der langsamen Ermüdung einer Gesellschaft erzählt", hat Lukas Foerster von der TAZ gesehen, und Rainer Gansera resümmiert in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG bekümmert:
"Die Dschihadisten nehmen alles, von der Religion bis zum erotischen Zauber des Frauenhaares, in Geiselhaft, erniedrigen es und versuchen, die Menschen zu bleichen Schatten ihrer selbst zu machen."
Türkische Filmkunst
Bleiche Schatten gibt es auch in einer anderen großen Kinopremiere dieses Feuilletontages in großer Zahl zu sehen, in dem türkischen, in Cannes preisgekrönten Film "Winterschlaf“.
"Das trübe Licht, der schmuddelig gewordene Schnee und die Kälte, die in alle Räume zu kriechen scheint, sind bezeichnend für die Welt, in der (…) ´Winterschlaf` spielt,"
schreibt Susan Vahabzadeh in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG. Ein "echtes Opus Magnum" sei dieser Film über einen gealterten Theaterstar und Patriarch eines Provinzhotels, und Barbara Schweizerhof bekennt in der TAZ, "sich am Ende des Films ein wenig" gefühlt zu haben, als hätte sie "einen Dostojewski-Band verschlungen".
Drei Stunden Frost in Anatolien scheinen auch Verena Lueken von der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG einiges an Kraft gekostet zu haben, wenn sie in ihre Verneigung vor diesem Werk einen Stoßseufzer einflicht über "den genialischen Gestaltungswillen des Regisseurs" Nuri Bilge Ceylan,
"der innen, in den Räumen und im Spiel seiner Darsteller, alles seinem kontrollierenden Gestus unterwirft. Drinnen sieht alles aus wie gemalt. Komponiert, könnte man sagen, aber auch: festgefroren. Draußen, wo es wirklich kalt ist, ist das anders. Dort, in der Weite der archaischen Berglandschaft (…), kann man Atem holen, man spürt fast den kalten Wind auf der Haut, der über die verschneite Steppe bläst."
Die Hysterie um ADHS
Womit wir beim letzten Thema dieser Kulturpresseschau wären: der so genannten Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung, abgekürzt ADHS.
Hunderttausende zappelige Jugendliche bekommen seit den 90er-Jahren diese Störung attestiert, und das hält der Literaturwissenschaftler Manfred Schneider in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG für eine "massenepidemiologische Verwüstung", entstanden "aus dem Zusammenwirken von Eltern, Pädagogen, Ärzten und pharmazeutischen Marketing-Genies".
Mit grimmigem Vergnügen listet NZZ-Autor die epidemiologischen Moden vergangener Jahrhunderte auf.
"Im 18. Jahrhundert war es für jeden Intellektuellen Ehrensache, an Melancholie zu leiden."
Später ließen sich Gelehrte und Schriftsteller von Diagnosen wie Hysterie oder Persönlichkeitsspaltung faszinieren.
"Wo sind die gespaltenen Persönlichkeiten, wo ist die Hysterie heute geblieben? Hysterie",
und damit schließen wir inmitten von Frost und bleichen Schatten voll zappeliger Energie diese Presseschau,
"lässt sich allenfalls in der gegenwärtigen Mode der ADHS-Diagnostik erkennen, wo Krankheitswahn und Normalitätsbesessenheit einander die Hand reichen."