Aus den Feuilletons

Gericht entscheidet über Gerhard Richters Altpapier

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Der Künstler Gerhard Richter.
Der Prozess um Skizzen des Künstlers Gerhard Richter, die aus seinem Müll geholt worden waren, endete mit einer Verurteilung wegen Diebstahls. © picture alliance / dpa / Rolf Vennenbernd
Von Ulrike Timm · 27.04.2019
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Gerhard Richter warf ein paar Skizzen ins Altpapier, ein Mann fischte sie aus der Tonne, um sie zu verkaufen und wurde nun wegen Diebstahls zu einer Geldstrafe verurteilt. Denn auch Müll ist Privatbesitz.
"Schade also". In der FRANKFURTER RUNDSCHAU regt sich Christian Thomas darüber auf, wie ignorant und bisweilen infam die Debatte im Netz über den Wiederaufbau von Notre-Dame geführt werde. Tenor: "Schade. Ja. Dumm gelaufen."
"So ausgeprägt das gleichgültige Achselzucken – wegen der Initiativen zum Wiederaufbau und vor allem der Spenden war es mit der Gleichgültigkeit gegenüber der Kathedrale unmittelbar vorbei. Die Investition in Steine wurde angesichts der Nöte in der Welt, des Elends im Jemen oder in Syrien, der Ertrinkenden im Mittelmeer, als Hartherzigkeit hingestellt, als Heuchelei, als Zynismus gebrandmarkt. Sollte es sich bei den abschätzigen Bemerkungen über ‚totes Gestein‘ oder eine ‚abgefackelte Notre Dame‘ um einen weiteren Aufstand der Affekte handeln? Um eine Empörung gegen eine angebliche Elitekultur unter dem Regime der Affekte?"

Neue Vorschläge für Notre-Dame

Auch die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG macht sich vor dem Hintergrund des ausgerufenen Architektenwettbewerbs Gedanken zur Zukunft der Kirche unter der Prämisse "Neu gegen alt".
"Der Reigen der Entwürfe ist staunenswert. Wenn man einmal vom vielleicht provokativ gemeinten, tatsächlich absurden Vorschlag von Tom Wilkinson absieht (Verschönerung der ziemlich gotischen, aber auch ziemlich römisch-katholischen Kathedrale durch ein ‚anmutiges Minarett‘), dann gibt es keine Stahl-Glas-Formalismen mehr, mit denen sich Notre-Dame nicht überformen ließe."
Andere, so spottet Gerhard Matzig, "würden am liebsten erstmal die 1300 Eichen, aus denen der Dachstuhl bestand, wiederaufforsten, um dem ‚Original‘ so nahe wie möglich zu kommen". Aber das läge ja schon mit dem ambitionierten, wenn auch "kunsthistorisch sagenhaft unseriösen Fünfjahresplan" des französischen Präsidenten über Kreuz.
Die TIMES brachte einen angeblichen Entwurf von Norman Foster in Umlauf, "Glasdach und ein nadelspitzer Stahlturm samt Aussichtsplattform" – das Büro Foster distanzierte sich sofort, aber die Skizzen sorgten für Aufregung. Nicht nur diese Skizzen!

Auch Müll ist Privatbesitz

Gaaanz vorsichtig fasste die Richterin das corpus delicti an, denn es ging um Kunst, und die sollte weg. Gerhard Richter hatte ein paar Skizzen ins Altpapier geworfen, und nun wissen wir: Auch der Müll von Gerhard Richter gehört Gerhard Richter. Der Mann, der die weggeworfenen Entwürfe aus dem Altpapier fischte, um sie zu verkaufen, wurde wegen Diebstahls zu einer Geldstrafe verurteilt. Das berichten, knapp oder ausführlich, alle Feuilletons.

Heute wäre Leonardo da Vinci ein Start-up-Genie

Wo das Altpapier von Leonardo da Vinci abgeblieben ist, wird sich kaum noch klären lassen. Er verstarb vor 500 Jahren, am 2. Mai 1519, und für die WELT ist klar: Heute wäre er ein "Start-up-Genie".
"Er muss nicht um seine Follower fürchten, denen die christliche Ikonographie zu analog ist", meint Swantje Karich und bemüht sich etwas angestrengt, den "Überkünstler", den "unzuverlässigen Chaoten und Freigeist" Leonardo ins Heute zu beamen, aber klar doch: "Leonardo? Like!"
Kia Vahlands Leonardo-Hymne in der SÜDDEUTSCHEN ist subtiler, aber die Autorin kann auch aus dem Vollen schöpfen, hat sie doch gerade eines der neuen dicken Leonardo Bücher veröffentlicht.

Aber würde er sich in eine Talkshow setzen?

"Ein halbes Jahrtausend ist Leonardo da Vinci nun schon tot, und er fehlt noch immer", stellt sie ihr Fazit gleich an den Anfang. Possierlich, sich den Künstler heute vorzustellen, er täte uns wohl nicht den Gefallen, "sich in die nächste Talkshow zu setzen (wenn doch, würde er erst einmal die Kamera auseinandernehmen, als wäre sie eine frische Leiche, deren Anatomie es zu erkunden gilt)."
Und wenn wir Leonardo unsere Welt erklären wollten, wären wir mit unserem Latein schnell am Ende, so die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, denn "den Sitz der Seele, den er in seinen sezierten Menschenschädeln suchte, haben auch die Neurobiologen nicht gefunden".

Robinson Crusoe und Freitag stellen ihren Autor zur Rede

FRANKFURTER ALLGEMEINE und TAGESSPIEGEL widmen sich einer etwas jüngeren Ikone: Vor 300 Jahren erschien Defoes Roman Robinson Crusoe. "Was für ein Glück, dass Daniel Defoe vor 300 Jahren die Entscheidung traf, den Helden nicht verdursten zu lassen!", freut sich die FAZ. Dessen Startbedingungen waren nach Schiffbruch nicht günstig.
Allerdings, so lesen wir weiter, fing Robinson "auf der Insel, an deren Strand er gespült wurde, keineswegs bei null an. Nicht nur, weil er sich in zwölf Fahrten zum Wrack alles holt, was dort zu finden und zu gebrauchen ist, sondern auch, weil er sich nach vier Jahren als Farmer in Brasilien Kenntnisse und Fähigkeiten angeeignet hat, die ihm auf der Insel nützen", stellt Tilman Spreckelsen fest.
Bloß Diener Freitag zu missionieren und in kolonialistischer Manier einen neuen Namen zu geben, ohne nach dem ursprünglichen auch nur zu fragen – das ginge heute gar nicht mehr. Weshalb der TAGESSPIEGEL zu einem Schnelldurchgang durch die Literaturgeschichte ansetzt auf der Suche nach unterschiedlichsten Robinson-Geschichten.
Empfohlen wird uns vor allem die widerborstige Streitschrift eines Zeitgenossen von Daniel Defoe, Charles Gildon. Der legte nämlich richtig los. "Gegen Defoe: Robinson Crusoe und Freitag stellen ihren Autor zur Rede." Gibt es jetzt auch auf Deutsch.

Hannelore Elsner - wild, verführerisch und unabhängig

Im Ohr bleiben die liebevollen Nachrufe auf die Schauspielerin Hannelore Elsner. Lebensfroh und eisern diszipliniert zugleich, ließ sie ihre schwere Erkrankung nicht nach außen dringen. Nun ist sie 76-jährig gestorben. Regisseurin Doris Dörrie hat mehrfach mit ihr gearbeitet und bleibt weitgehend im Präsens, wenn sie in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG von Elsner spricht: "Das Schönste, da sind wir uns einig, ist doch, zusammen etwas zu erzählen, was wahrhaftig, unterhaltsam, wild und schön ist. Dafür nimmt sie alles in Kauf."
"Ohne die wilde, verführerische und unabhängige Hannelore Elsner ist der deutsche Film der letzten sechs Jahrzehnte undenkbar", schreibt Hanns Georg Rodek in der WELT und titelt salomonisch: "Sie war so frei."
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