Aus den Feuilletons

"Friert mich ein wie ein Fischstäbchen"

Das Monitorfoto zeigt das Einbringen einer Samenzelle in eine Eizelle mittels Mikropipette unter dem Mikroskop.
Das Einfrieren von Eizellen beschäftigt die Feuilletons. © Hubert Link, dpa
Von Tobias Wenzel · 25.10.2014
Männer können bis ins hohe Alter Nachwuchs zeugen - warum sollten Frauen nicht auch länger Kinder bekommen? In den Feuilletons tobt der Streit zwischen Anhängern und Gegnern des sogenannten "Social Freezing". Das und mehr in unserem Wochenrückblick.
Die italienische Pizza soll Weltkulturerbe werden! "Quatsch mit Soße" nannte die TAZ zu Wochenbeginn eine entsprechende Petition, die immerhin schon fast 30.000 Italiener unterschrieben haben. Aber unterschätzt die TAZ da nicht die kulturellen Errungenschaften, die beim Verzehr einer guten italienischen Pizza entstehen können?
So trafen sich am 23. Juni 2011 in Neapel, der Stadt der Pizzen, in einem Ristorante in der Via Gennaro 29, der italienische Philosoph Maurizio Ferraris und sein deutscher Kollege Markus Gabriel. Dort begründeten sie den sogenannten Neuen Realismus, der nun einen Hype in philosophischen Fachkreisen erfahren hat, berichtet Cord Riechelmann in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN SONNTAGSZEITUNG.
Riechelmann erwähnt nicht, was die Herren im Restaurant aßen. Aber wie sollte man es sich anders vorstellen, als dass eine veritable, des Weltkulturerbes würdige Pizza Napoletana den beiden Philosophen die Kraft und Inspiration gab, den Neuen oder auch Spekulativen Realismus auszurufen? Die zwei waren nämlich schon lange angewidert von jenen Kollegen, die mit "postmoderner Ironie" zum Beispiel behaupteten, ein Schraubenzieher sei gar kein Schraubenzieher. Man könnte das Ding ja auch zum Reinigen der Ohren benutzen.
Wer die Feuilletons dieser Woche las, konnte den Eindruck gewinnen, hier werde nebenbei auch gleich der Kampf zwischen den Anhängern des Neuen Realismus und den Jüngern der Postmoderne ausgetragen, für die es "keine Tatsachen, nur Interpretationen" gibt, für die ein Gegenstand nie der ist, der er zu sein scheint.
"Frank Gehry baut in Paris ein Museum, das auf gar keinen Fall wie ein Museum aussehen soll", schrieb Hans-Joachim Müller in der WELT. Sie ahnen es schon: Gehry ist so etwas wie der Derrida der Architektur oder, wie es der Kritiker formulierte: ein "gefeierter Dekonstruktivist". Müller verirrte sich dann auch gleich in diesem Anti-Museum der Fondation Louis Vuitton: "Silbern glänzende Schalen wie zersägte Riesenmuscheln. Schieben sich ineinander, klaffen auseinander. [...] Was Dach, was Wand ist, es ist nicht zu entscheiden."
"Dracula ist auch nicht mehr, wer er mal war", schrieb Michael Hanfeld tief enttäuscht in der FAZ über die neue Serie bei Vox. Der Graf aus Bram Stokers Roman sei im Fernsehen gar nicht wiederzuerkennen: "Von wegen untotes Monster in Menschen- und Fledermausgestalt: Nur noch dann und wann, wenn es sich gar nicht vermeiden lässt, beißt Dracula jungen Frauen in den Hals." Man meint die Tränen herauslesen zu können, die Hanfeld leise vergossen hat, als er verstand: Dracula ist kein Dracula. Ein wenig mehr Realismus (denn natürlich steht in dem Buch von Bram Stoker nichts als die Wahrheit) – und es hätte Leid vom Medienjournalisten der FAZ abgewendet werden können!
Geradezu realitätssüchtig wirkte Claudia Fuchs. "Danke, Apple! Danke, Facebook!", rief sie in der Überschrift zu ihrem Artikel für die BERLINER ZEITUNG aus, um dann den Blick auf die "Fakten" zu richten. Die beiden Konzerne zahlen nämlich ihren jungen Mitarbeiterinnen das Einfrieren ihrer Eizellen. Dann können sie sich schön auf ihre Arbeit konzentrieren und erst Jahre später Kinder kriegen.
Claudia Fuchs aber schob die "moralische Debatte" beiseite, um sich, wie gesagt, den Fakten zu widmen, der knallharten Realität: "Männer können immer. Die meisten jedenfalls. Sie sind mit 20 zeugungsfähig, mit 40, viele mit 60, einige noch mit 80. Warum sollen Frauen nicht auch einige Jahre länger Kinder bekommen?" Das Social Freezing verhelfe Frauen zu mehr Selbstbestimmung.
"Friert mich ein. Bitte. Friert mich ein wie ein Fischstäbchen oder wie eine zu viel gekaufte Packung Toastbrot", schrieb dagegen in der TAZ Margarete Stokowski, für die Social Freezing nur eine von vielen Zumutungen ist. "Taut mich auf, wenn Frauen einfach Menschen sind."
"Herr Salgado, wo sind die Menschen auf Ihren Bildern geblieben?", fragt Philipp Oehmke im neuen Spiegel den Fotografen Sebastião Salgado. "Das ist eine lange und traurige Geschichte", antwortet der. Jahrzehnte fotografierte Salgado Menschen, Goldminen-Arbeiter in Brasilien zum Beispiel, Menschen in Kriegsregionen. Auf den Fotos seiner neuen Ausstellung in New York allerdings sieht man fast nur menschenleere Landschaften. Und nun erklärt er im Interview, warum: "Ich habe den Glauben an uns verloren."
Salgado erzählt, was er 1994 in Kongo erlebt hat, als der Völkermord täglich Tausende neue Tote brachte. Er wurde Zeuge eines 150 Meter langen, bis zu fünf Meter hohen Leichenwalls: "Einmal, als ich da fotografierte, kam ein Mann. Er hielt seinen toten Sohn in den Armen. Und schmiss ihn auf den Haufen mit den Leichen. Da lagen aber schon 15.000. Jetzt lag da einer mehr. [...] Der Mann ließ seinen Sohn dort auf dem Haufen liegen. Und würde selbst losgehen, um zu töten. Es war dieser Moment, an dem ich selbst begann zu sterben."
Spiegel-Redakteur Oehmke interpretiert die neuen Fotos Salgados, auf denen vor allem "Flüsse, Meere, Eisberge, Urwälder und Tiere" zu sehen sind; wenn auch mal Menschen, dann nur aus indigenen Völkern fernab der Zivilisation: "Hier möchte jemand die Welt zeigen, wie sie vielleicht ist, wie wir sie aber nicht sehen können, weil die meisten Menschen, wie Salgado offenbar glaubt, das Gucken verlernt haben". Ob es ihm nicht darum gehe, "eine faktische Wirklichkeit abzubilden", will Oehmke wissen. Der 70-jährige Fotograf antwortet: "Wahrheit, mein junger Freund, gibt es ohnehin nicht."
Abgesehen natürlich von einem Satz wie: "Eine italienische Pizza ist eine italienische Pizza."