Aus den Feuilletons

Frauen stehen auf Blechtrommeln

Sonderausstellung zu 50 Jahren "Die Blechtrommel" im Lübecker Grass-Haus
Magische Anziehung: "Die Blechtrommel" im Lübecker Grass-Haus © dpa / picture alliance / Maurizio Gambarini
Von Tobias Wenzel · 16.05.2015
Mit der "Blechtrommel" in der Hand konnte man in den 60er-Jahren schnell Frauen kennenlernen - das erzählte der US-Schriftsteller John Irving auf der Trauerfeier für Günter Grass in Lübeck. Was sonst noch in dieser Woche geschah - ein Überblick.
Wie lernte man im Wien der 60er-Jahre am besten Frauen kennen? Mit "Der Blechtrommel" in der Hand. Berichtete jedenfalls aus eigener Erfahrung John Irving während der Trauerfeier für Günter Grass in Lübeck. Die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG druckte zu Wochenbeginn die Rede des US-amerikanischen Schriftstellers ab, die größtenteils amüsant daherkam und nur am Ende etwas wehmütig wurde. Da erwähnte Irving eine Figur aus der "Blechtrommel", den jüdischen Spielzeughändler Sigismund Markus. Die Nazis zwingen ihn, Selbstmord zu begehen. Irving ließ die Rede auf seinen Freund mit den Worten enden:
"Günter Grass war der König der Spielzeughändler. Jetzt hat er uns verlassen und alles Spielzeug aus dieser Welt mitgenommen."
Eckhard Fuhr von der WELT wurde zwar bei diesem schiefen Bild regelrecht schwindelig. Aber Irvings Worte wirken nun in der Rückschau bezeichnend für diese Feuilleton-Woche, die von Tod, Zerstörung und dem angekündigten Untergang von Welten bestimmt war. Und dem wehmütigen Blick zurück in die gute alte Vergangenheit: "Die Zeiten, in denen Herbert von Karajan 'mit tausend Freuden' sich auf Lebenszeit den Berlinern verschrieb, sind vorbei", befand Joachim Kronsbein im SPIEGEL und schrieb zur gescheiterten Wahl eines neuen Chefs für das wohl beste Orchester der Welt:
"Elf Stunden lang haben die Berliner Philharmoniker am vergangenen Montag grunddemokratisch darüber beraten, wer sie denn von 2018 an als Nachfolger von Sir Simon Rattle führen soll. Einfach würde das nicht werden, das war klar. Aber so schwierig?"
Von Charlie Hebdo und dem Zerfall des Christentums
Auch Sonja Zekri machte es sich nicht leicht. "Vielleicht wäre es besser, dieser Text würde nie erscheinen", schrieb sie in der SZ und dachte an die Kämpfer des Islamischen Staates, die sich einer weiteren Antikenstadt bedrohlich genähert haben:
"Vielleicht wäre es ja klüger, so zu tun, als sei das syrische Palmyra völlig egal, ein Ort wie jeder andere. Ein paar alte Steine. Und nicht: eine der schönsten Ruinen-Metropolen an der orientalischen Seidenstraße, einst eine wohlhabende Oasenstadt, das Scharnier zwischen Rom und Zweistromland, heute Weltkulturerbe, Welterbe, ein Teil von uns ‒ und damit ein ideales Ziel für Terroristen."
Der Anschlag auf das Satireblatt "Charlie Hebdo", die große Solidarisierung mit den Opfern und der Slogan "Je suis Charlie", all das ist nur allzu bekannt. Marc Zitzmann erklärte allerdings dem erstaunten Leser in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG, der französische Anthropologe Emmanuel Todd habe nun behauptet, diese Solidarisierungsbewegung sei islamfeindlich gewesen und von französischen "Zombie-Katholiken" getragen worden. Denn "der Zerfall des Christentums" befinde sich bereits im "Endstadium".
Der selbsternannte "Volksphilosoph" Michel Onfray verkündet wiederum nicht nur "den Niedergang Frankreichs", so Wolf Lepenies in der WELT, sondern gar das "Ende der westlichen Zivilisation":
"Die grausame Wahrheit ist es, dass unsere Zivilisation sich auflöst. Sie hat 1500 Jahre gedauert. Das ist schon viel.“
Im Übrigen würden die verschuldeten USA irgendwann von ihren chinesischen Gläubigern fallen gelassen. Oder wie es der Geografie-Professor Jared Diamond in der SZ ausdrückte: "Die Einzigen, die die amerikanische Demokratie tatsächlich bedrohen – sind wir Amerikaner."
Ist mit B.B. King der Blues gestorben?
Bevor alles untergeht, die USA, das Abendland, sollten wir vielleicht noch einmal B.B. King hören. Die Feuilletonisten ließen keinen Zweifel: Da ist ein ganz großer Musiker gestorben. Oder gar, wie DIE WELT behauptete, der Blues himself? Auch Karl Bruckmaier wollte wohl mit seinen Worten so hoch hinaus wie B.B. King mit seinem Blues. In der SZ schrieb der Kritiker:
"Ob wir seine Musik nun mochten oder irgendwann nicht mehr so sehr, ob wir seinen recht derben Umgang mit Frauen oder seine bekannt herrische Art Dritten gegenüber entschuldigen können oder nicht, hier ist einer gestorben, der ragt noch aus einer fremd gewordenen Zeit in die unsrige herüber, einer Zeit, als noch Riesen, Drachen und Könige die Erde bevölkerten. Und mit ihm ist auch diese sagenhafte Welt vergangen."
Und noch eine untergegangene Welt! Wer trotzdem nicht auf Riesen und Drachen verzichten möchte, der kann sich eigentlich nur noch Drogen einwerfen. Das tun in Russland, laut dem Chef der dortigen Drogenbehörde, zur Zeit acht Millionen Menschen. "Das wären fast sechs Prozent der gesamten russischen Bevölkerung", kommentiert Nikolai Klimeniouk in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN SONNTAGSZEITUNG.
Der Kampf der russischen Behörden gegen den Drogenkonsum trage allerdings perverse Züge. Krebskranke Menschen würden oft keine Schmerzmittel bekommen. Und die Polizei würde politisch Andersdenkenden Drogen unterschieben, um sie so kalt zu stellen. "Vor kurzem hat die Duma-Abgeordnete Irina Jarowaja einen Gesetzesentwurf vorgestellt, der verbietet, Drogen beim Namen zu nennen und ihren Konsum zu beschreiben", berichtet Klimeniouk weiter. "Vorerst wurde er abgelehnt, aber die Chancen, dass er dann doch angenommen wird, sind nicht schlecht." Offensichtlich geht nicht nur der Westen, sondern auch Russland langsam aber sicher unter. Ach was, die ganze Welt!
Nun sagen Sie, liebe Hörer, vielleicht: Egal, ich werde nicht untergehen, ich halte mich einfach fest. An der Interpunktion zum Beispiel. Na ja. Wenn dem so ist, dann schalten Sie jetzt bitte ganz schnell das Radio aus. Sonst entgleitet auch dieser letzte vermeintliche Rettungsanker. Die TAZ berichtete über Patrick Stewart, einen 61-jährigen Studenten von der University of British Columbia. Stewart hat eine Doktorarbeit ohne Interpunktion geschrieben und abgegeben. Ohne Absätze, ohne Punkte, ohne Kommata. In den Worten des rebellischen Doktoranden: 149 Seiten "in einem langen, von vorne bis hinten fortlaufenden Satz".
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