Aus den Feuilletons

Flanieren in Zeiten der Pandemie

04:15 Minuten
Spazierengänger in der winterlichen Morgensonne.
Ohne Ziel: Spazierengehen ist der neue Volkssport. © picture alliance/dpa | Christian Charisius
Von Burkhard Müller-Ullrich · 14.02.2021
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Früher ging man spazieren, um den Kopf freizubekommen. Heute flaniert man, weil sonst nicht mehr viel geht. Doch damit verändert sich diese Fortbewegungsweise. Von der Selbsttherapie bleibt nur noch das Neurotische zurück, findet die „Welt“.
"Bautypologisch betrachtet ließe sich die Frisur von Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter als Seilnetzkonstruktion beschreiben", erklärt Gerhard Matzig, Architekturexperte der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG, der sich auf äußerst vergnügliche Art mit Hofreiters jüngstem Projekt auseinandersetzt, der Zurückdrängung des Eigenheimbaus.
Nein, er wolle natürlich nichts verbieten, sagte Hofreiter zwar inzwischen dem "Spiegel", aber, so Matzig, "tatsächlich haben die Grünen zum Eigenheim ein schon lange zerrüttetes Verhältnis, das man auch in Parteitagsbeschlüssen und Programmen nachlesen kann". Also lassen wir uns nichts vormachen, für Hofreiter "hat Satan eindeutige Gesichter: Mal nimmt er die Form eines Steaks an, mal die eines Autos – und jetzt eben die eines Hauses".

Der Garten als letztes Refugium der Unbeschwertheit

Natürlich kann man jetzt lange über Flächenverbrauch und Energieeffizienz diskutieren, aber das Häuschen im Grünen ist nun mal eine Lebensform, die mit tief wurzelnden Emotionen verbunden ist. "Viele Menschen wünschen sich genau das. Andere hassen genau das", wie Matzig treffend feststellt und nicht nur mit gut bayerischer Liberalität, sondern auch mit guten Argumenten gelten lässt, denn dank der hoch entwickelten Ökotechnologie von heute kann ein Einfamilienhaus durchaus umweltverträglich sein. Und auch der alte Stadt-Land-Antagonismus ist eigentlich ziemlich überholt.
Hinzu kommt, dass "sich das inkriminierte Einfamilienhaus unter pandemischen Bedingungen kraft seiner Raumressourcen und der Homeoffice-Entwicklung, die auch das Pendeln umweltfreundlich überflüssig machen kann, samt Garten als letztes Refugium der Unbeschwertheit anbietet".

Der Corona-Spaziergang in der Kritik

Der Garten kann, so möchten wir Matzigs Gedanken verlängern, unter pandemischen Bedingungen sogar als Konferenzraum dienen, wie es der Germanist Magnus Klaue in der WELT beschreibt. Seine literarhistorische Betrachtung des Spazierengehens beginnt mit Rousseau und führt über Goethe und Büchner zu Baudelaire, Kafka und Robert Walser, der ja, eine Pointe, die Klaue verschweigt, just auf einem winterlichen Spaziergang sein Leben aushauchte.
Der Kick dieses Artikels besteht aber in seinen Corona-Bezügen. Denn wahrhaftig hat sich der Charakter des Spazierengehens unter dem Druck der herrschenden Begegnungsverbote in geschlossenen Räumen bemerkenswert verändert.
Ihm ist nämlich "jegliches transzendente Potenzial abhandengekommen, das ihm gerade auch in der krisenförmigen Erscheinungsform des Flanierens innewohnte. Übrig geblieben ist das Moment der Neurose, das jedoch nicht mehr wie im modernen Spleen als Widerspruch gegen eine bedrängende Wirklichkeit erfahren wird".

Neurotisches Flanieren

Dazu muss man wissen, dass der Spaziergang, seit er im 18. Jahrhundert als Fortbewegungsweise des Bürgers entdeckt worden ist, hauptsächlich weder sportlicher Ertüchtigung noch dazu diente, irgendwo hinzukommen, sondern er hatte eine selbsttherapeutische, soziophobe und neurotische Bewandtnis. In der Pandemie ist höchstens das Neurotische geblieben. In Klaues Worten:
"Wo sich im öffentlichen Raum maskierte, einander achtsam umgehende Namenlose statt guten Tag nur noch Gesundheit wünschen, gibt es keine Außenwelt und keine frische Luft mehr, mag deren Kohlendioxidgehalt noch so menschenfreundlich sein."

Postillusionäre Magie

Von einer ganz anderen coronabedingten Veränderung berichtet Sandra Kegel in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG, und zwar geht es um den Bühnenmagier Nikolai Friedrich, der wie so viele Künstler seit fast einem Jahr auf keiner internationalen Bühne mehr stehen und nicht mehr vor Zuschauern zaubern kann. Deshalb hat er sich ein Kellerstudio eingerichtet und bietet seine Tricks per Videokonferenz an. Nur, dass dabei eben nicht mehr die Täuschung als solche, sondern die Erklärung im Vordergrund steht:
"Er ist, was man in Analogie zum postdramatischen Theater wohl einen postillusionären Zauberer nennen würde. Einer, der alles offenlegt und ausbreitet, der seinem Publikum gesteht, dass es sich bei seiner Kunst um Tricks und nicht um Geheimwissen handelt, und der sagt, dass er – natürlich – keine Gedanken lesen kann."
So wird ein Magier zum Helden der Ehrlichkeit, während Magie und Tricks in die Politik abgewandert scheinen.
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