Aus den Feuilletons

Erwachsensein als Entschuldigung

Ein Smartphone mit dem Hashtag "#MeToo"
Wird mit #MeToo endlich ein grundsätzliches Problem unserer Gesellschaft angegangen? © dpa-Zentralbild
Von Hans von Trotha · 29.01.2018
Mit vulgären Sprüchen hat der amerikanische Künstler Chuck Close verbal sexuell missbraucht und meint, wir seien alle erwachsen. Ob sein Verhalten das Abhängen seiner Bilder rechtfertigt, hinterfragt die "FAZ".
Für alle die keine Lust mehr haben auf den #MeToo ist es ein eher schlechter Feuilletontag. Und das ist vielleicht eine eher gute Nachricht. Denn wie die Feuilletons sich der Debatte widmen, zeigt, dass es über die Phase der schrillen Enthüllungen hinaus diesmal vielleicht gelingt, ein grundsätzliches Problem unserer Gesellschaft nachhaltig anzugehen.
Hanns-Georg Rodek fragt in der Welt, wie es kommen konnte, dass Dieter Wedel derart lang unbehelligt blieb, und meint:
"Erinnern wir uns an die Wedel’sche Glanzzeit … Die öffentlich-rechtlichen Sender … standen damals unter dem Druck der Politik, die unbedingt Privatsender haben wollte. Um ihre Existenzberechtigung nachzuweisen, brauchten ARD und ZDF etwas ganz Eigenes. Und Wedel lieferte es ihnen: die Drei-, Vier-, Fünf- und Sechsteiler, die Fernseh-Ereignisse … und alle … sonnten sich im Glanz dieses offenbar einzigen Genies des deutschen Fernsehens. … Zu diesem Zweck ließen alle dem Genialischen einiges durchgehen".
In der FAZ geht Rose Marie Gropp darauf ein, dass "die Nationalgalerie in Washington … eine Ausstellung mit Arbeiten des amerikanischen Künstlers Chuck Close auf unbestimmte Zeit verschoben" hat. Vorwurf: Verbaler sexueller Missbrauch.

Vulgäre Sprüche unter Erwachsenen

"Close", so Gropp, "gibt zu, vulgäre Sprüche gemacht zu haben; er entschuldigte sich. Und 'But we’re all adults', sagte er im Interview mit der "New York Times". Mit dem Hinweis, dass die Beteiligten schließlich Erwachsene seien, wird er nicht davonkommen", kommentiert Rose Marie Gropp. Doch die Entscheidung, die Bilder abzuhängen, hinterfragt sie, "denn was, sei es auch nur angebliches, sexuell anstößiges Fehlverhalten angeht oder eben ähnlich beleidigende Darstellungen, wäre Close in prominentester Gesellschaft: Ernst Ludwig Kirchner & Co., Egon Schiele und Balthus … gehören dazu. Bei den Mördern sind es die üblichen Verdächtigen Caravaggio, Richard Dadd oder Walter Sickert, prophylaktisch (weil noch immer nicht ganz vom Verdacht befreit, Jack the Ripper gewesen zu sein)."
Der Tagesspiegel spannt den Fall Close mit der Meldung zusammen:
"Alec Baldwin verteidigt Woody Allen … Baldwin", heißt es da, "zog eine Parallele zwischen Dylan Farrow, die ihrem Adoptivvater Woody Allen sexuellen Missbrauch vorwirft, und dem Mädchen Mayella, die in Harper Lees auch verfilmten amerikanischen Klassiker 'Wer die Nachtigall stört' einen Schwarzen fälschlicherweise der Vergewaltigung bezichtigt. … Dylan Farrow reagierte … , indem sie darauf verwies, was Baldwin in seinem Vergleich unterschlägt. In Harper Lees Roman stellt sich heraus, dass Mayella von ihrem Vater vergewaltigt wurde."
Literarisch argumentiert auch Barbara Vincken in einem großen Süddeutsche-Interview:
"Nabokovs "Lolita" etwa", sagt sie da unter anderem, "ist keine Anleitung zum Missbrauch von Dreizehnjährigen, sondern der Roman entblößt – vom Ende her gelesen – das Grauenhafte dieses Phantasmas. Nähme man die Zensurwünsche ernst, dürfte man selbst Ovid nicht mehr lesen, bei dem in einer einzigen Metamorphose 24 Frauen vergewaltigt werden. ... es geht auch nicht darum, dass das, was gezeigt wird, legitim, sondern dass es wahr ist."

Dekonstruktion der patriachalen Ideologie

Während die Literaturwissenschafltlerin Vincken in der Süddeutschen die weibliche Perspektive erhellt, fragt in der NZZ der Literaturwissenschaftler Daniele Giglioli: "Welche männlichen Tugenden sind nach dem Weinstein-Skandal übrig geblieben?" Und antwortet:
"Das Vorhaben, unsere Mythologie der Tugend ausgehend von der Auslöschung des Weiblichen einer neuen Lektüre zu unterziehen, … wird uns übrigens auch dann gelingen, wenn wir den sinnlosen Vereinfachungen widerstehen, die in Aeneas oder Odysseus die Weinsteins der Antike sehen wollen. Aber … die eigentliche Gefahr einer Dekonstruktion der patriarchalen Ideologie besteht darin, dass zusammen mit der Ideologie auch jene Tugenden langsam verschwinden, die der männlichen Dimension zugeschrieben wurden: Mut, Redlichkeit, Verantwortung, Sorge um das öffentliche Leben, Gemeinsinn. … in der Praxis schwinden sie … Dies ist die Kehrseite der an sich unumstrittenen Kritik am Patriarchat."
Giglios Fazit lautet: "Das Ende des Patriarchats wird weder langsam noch schmerzlos über die Bühne gehen."
Vielleicht lohnt es sich ja doch, dranzubleiben beim #MeToo.
Mehr zum Thema