Aus den Feuilletons

Erinnerung an Castros Mammutreden

Der damalige kubanische Staats- und Parteichef Fidel Castro spricht in Havanna, Kuba, vor einem Bild des Revolutionärs Ernesto "Che" Guevara (Archivfoto vom 01.09.1998)
Fidel Castro spricht vor einem Bild des Revolutionärs Ernesto "Che" Guevara. © dpa/Roque
Von Pau Stänner · 27.11.2016
Mehrere Stunden konnten Fidel Castros Reden dauern: In der FAZ beschreibt Paul Ingendaay den verstorbenen Revolutionär als rhetorisches Phänomen. Die "NZZ" weiß sogar von einer 12-Stunden-Ansprache des Kubaners zu berichten.
Das Essen zu Thanksgiving, schreibt Peter Richter, der USA-Korrespondent der SÜDDEUTSCHEN, sei gut gewesen und es habe auch reichlich zu trinken gegeben. Die Party war sich einig, dass auf jeden Fall ein Amtsenthebungsverfahren auf Donald Trump zukomme, die Frage sei nur wann. Whiskey aus Kentucky, so war zu hören, verkaufe sich bestens, vor allem an den Küsten, wo die Clinton-Wähler wohnten. Richtig gruselig wurde es, als Berliner Gäste erzählten, rot-rot-grün wolle in der Hauptstadt den Boulevard Unter den Linden zu einer Fußgängerzone erklären, zu einer Shopping Mall ohne Geschäfte. Da outete sich ein Gast als Wähler der amerikanischen Grünen. Peter Richter schreibt:
"Aber ja doch, erklärte er, hartnäckig sein Glas hinhaltend, sollte die Fifth Avenue auch irgendwann zur Fußgängerzone werden, wäre er mit schuld daran."
Erst am nächsten Morgen nach Essen und Alkohol sei dann deutlich geworden, dass der Kandidatin der amerikanischen Grünen, Jill Stein, weitaus mehr politische Bedeutung zukomme als gedacht, denn sie wird Trumps Wahlergebnis anfechten, und nicht Hillary Clinton.
So viel zur Lage in New York.

Fidel Castro als rhetorisches Phänomen

Wir bemerken eine interessante Tendenz: Über den Reformator Martin Luther, dessen Würdigungsfeierlichkeiten niemand mehr entgehen kann, wurden schon mehrere Bücher geschrieben, die ihn als einzigartigen Kommunikator und Medienjongleur herausstellen. Nun, da Fidel Castro gestorben ist, rückt auch er in den historischen Fokus als große Medienperson. Uns scheint, als würden im Denken der Gegenwart politische Umwälzungen vor allem als Kommunikationsevents begriffen.
Paul Ingendaay beschreibt in der FAZ den Kubaner als das "größte rhetorische Phänomen der letzten Jahrhunderthälfte", als Mann, der seine Zuhörer zu fesseln vermochte. Vier bis neun Stunden konnten seine Ansprachen dauern. Ingendaay ist beeindruckt: In diesen Stunden musste Castro weder trinken noch zur Toilette. Die Jahrzehnte gingen über den Diktator hinweg, aber – so Ingendaay:
"In Castros Reden, längst petrifiziert, überlebten das alte Pathos, ein hoher Grad an Wirklichkeitsverleugnung und maßloser ideologischer Anspruch."
Steigerungen sind immer möglich: Gemäß der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG konnten Castros Reden sogar 12 (!) Stunden dauern. Gerd Koenen ist der Ansicht, dabei handelte es sich nicht um die "folkloristische Spezialität eines begnadeten Alleindarstellers, sondern eine Herrschaftsmethode neuen Typs. Das rednerische Brio faschistischer Duces und lateinamerikanischer Caudillos kombinierte sich darin mit der organisierten Fröhlichkeit staatssozialistischer Massenaufmärsche."
Man vermisst einen Hinweis auf die organisierte Humorlosigkeit staatssozialistischer Geheimdienste, aber alle Experten sind sich einig im Urteil: Castro überlebte zehn amerikanische Präsidenten, aber mehr noch überlebte er sich selbst.

David Hamilton war immer umstritten

Überlebt auf seine spezielle Weise hatte sich auch der britische Fotograf und Filmemacher David Hamilton, der in den 60er- und 70er-Jahren nackte junge Mädchen in unschuldig-verführerischen Posen fotografierte und die Welt mit Bildbänden überschwemmte. Und womöglich einige seiner Darstellerinnen vergewaltigte. In der SÜDDEUTSCHEN erinnert Till Briegleb daran, dass Hamiltons Weichzeichner-Fotos immer umstritten waren. Briegleb denkt an die unklaren Grenzen in jenen 60er-Jahren, als diese Bilder auch gefeiert wurden als Befreiung der Sexualität. Er glaubt:
"Auch im Fall Hamiltons ist die Frage notwendig, ob in der 'befreienden' Epoche nicht über Tabus hinaus auch junge Menschen gebrochen wurden – und ob man Hinweise darauf in den Kunstwerken finden kann? Wie nahe liegen Hochkunst und Softporno, Reformpädagogik und Kindesmissbrauch beieinander?"
Die Antwort ist schwierig und steht noch aus. Wir fürchten, Sie müssen sich da selbst entscheiden.
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