Aus den Feuilletons

Einer der Großen

Der Schriftsteller Imre Kertesz.
Der Schriftsteller Imre Kertesz ist tot. © dpa/picture-alliance/Laszlo Beliczay
Von Adelheid Wedel |
Auschwitz war sein Lebensthema, der "Roman eines Schicksallosen" sein Opus Magnum. Die Feuilletons würdigen heute den verstorbenen ungarischen Schriftsteller Imre Kertész als einen aufrichtigen Dichter und präzisen Denker.
"Die meisten glauben, ich hätte unter dem Schreiben gelitten. Aber jeder Satz war ein Wunder",
das sagte Imre Kertész; Franziska Augstein zitiert diesen Satz in ihrem Nachruf auf den Schriftsteller in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG. Es ist der Nachruf auf einen Mann, den sie "als großen Schriftsteller und liebenswürdigen Mann" beschreibt. Kertész, in Ungarn geboren, hat diese Nation, auch wenn er zeitweilig in Berlin lebte, niemals verlassen.
"Ich hatte keine Identitätsprobleme, da nicht nur ich, sondern auch die Nation, in deren Verband ich lebte, gefangen war",
erklärte er zu seinem Heimatland. Franziska Augstein hebt einen anderen Gedanken hervor:
"So sehr er das KZ als Vorbereitung für die osteuropäische Lagergesellschaft ansah, so fern lag ihm doch die plumpe Totalitarismustheorie."
Kertész unterschied deutlich zwischen den Diktaturen und schrieb in einem Essay:
"Der Nationalsozialismus habe einen hocheffizienten Mördertypus hervorgebracht. Ganz unverhohlen stützte er sich auf die in Jahrtausenden von der Kultur zurück-gedrängten niederen Instinkte des Menschen."
Das sozialistische Ideal und seine eigenen Jugendträume habe Kertész ohne Nostalgie behandelt, so Augstein. Gleichzeitig scheute er sich nicht zu bekennen,
"der Untergang des Bolschewismus ändere nichts daran, dass das Scheitern des sogenannten Sozialismus das größte gesellschaftliche Desaster des 20. Jahrhunderts gewesen sei."
Zeitlebens setze sich Kertész, der so viel Ungerechtigkeit im eigenen Leben erfuhr, mit der Frage auseinander, ob es Gott gibt.
"Wenn Gott den Menschen nach seinem Ebenbild schuf, nach wessen Ebenbild schuf der Mensch dann die Selektion in Auschwitz?"

Literaturnobelpreis für das Lebenswerk

Dem Jugendlichen, noch bevor er 15 Jahre alt war, lehrten die Nazis, "dass er als erschießbares Material zu betrachten war". Dieser Lebenserfahrung setzte Kertész in seinem "Roman eines Schicksallosen" ein Denkmal; 2002 erhielt er für sein Lebenswerk den Literaturnobelpreis.
Die FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG nutzt einen Satz von Kertész für ihre Überschrift:
"Man hat mich nicht dazu nach Auschwitz gebracht, damit ich den Nobelpreis bekomme, sondern damit ich umgebracht werde."
Hubert Spiegel kommentiert die Haltung des Mannes nach diesem Erleben:
"Das Böse hielt er für erklärbar, das Gute blieb ihm ein Rätsel. Er war ein Gigant der Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts, der aus jener besonderen Form des Nichts kam, über die er sein Leben lang schreiben sollte. Ein Gigant der Negation und des gnadenlosen, weil nahezu jeder denkbaren Illusion beraubten Blicks, der jedoch an die Güte glaubte."

Konzentrationslager als Folge der menschlichen Verlorenheit

Der Nobelpreisträger habe die Konzentrationslager, die er als Folge, nicht als Ursache der neuzeitlichen menschlichen Verlorenheit verstand, in seinen literarischen Werken entdämonisiert, umreißt Hubert Spiegel das Lebenswerk desjenigen, der die Lager Auschwitz und Buchenwald überlebt hat.
Unter der Überschrift "Das Unfassliche beschreiben" erweist Andreas Breitenstein auf einer ganzen Seite der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG dem ungarischen Schriftsteller seine Referenz. Er schreibt:
"Noch einmal ist das 20. Jahrhundert an ein Ende gekommen. Imre Kertész ist tot – der aufrichtige Dichter und präzise Denker, der eminente Zeuge und tapfere Mensch."
In der BERLINER ZEITUNG sucht Mathias Schnitzler nach dem Wesentlichen in Kertész' Werk und kommt zu dem Schluss:
"1929 in Budapest als Sohn ungarischer Juden geboren und im Alter von 14 Jahren zunächst nach Auschwitz und später nach Buchenwald deportiert, sah Kertész bei Kafka eine zwanghafte Absurdität beschrieben, die er als charakteristische Ohnmachtserfahrung der Todeslager wiedererkannte: eine Art Einverständnis der Opfer mit der eigenen Erniedrigung. Dieser Schizophrenie sei er auf der Spur gewesen."
In der Tageszeitung DIE WELT formuliert Tilman Krause in seinem
"Nachruf auf eine Jahrhundertgestalt: Einen Menschen wie ihn wird es nicht wieder geben."
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