Aus den Feuilletons

Eine traumhafte Zwischenzeit

Das Bild zeigt in Plastik verpackte gestapelte rote Kisten mit den Wahlbriefen. Auf dem Plastik das Logo des Mitgliedervotums.
03.03.2018, Berlin: "Mitgliedervotum" steht auf einem überdimensionalen Aufkleber auf einem Wagen mit den Abstimmungsbriefen des SPD-Mitgliedervotums zur großen Koalition vor der SPD-Parteizentrale, dem Willy-Brandt-Haus. © Paul Zinken / dpa
Von Arno Orzessek  · 03.03.2018
Das Ergebnis des SPD-Mitgliedervotums könnte das Ende einer "traumhaften Zwischenzeit" bedeuten, überlegt die Süddeutsche Zeitung. Philosoph Jürgen Habermas denkt in der ZEIT über "verlorene politische Handlungsfähigkeiten" nach und die WELt spannt einen Bogen von der Kritik an der Tafel über Hitler bis hin zu Pol Pot.
An diesem Sonntag gegen neun Uhr gibt die SPD das Ergebnis ihrer Mitglieder-Befragung bekannt. Womöglich ist dann der Weg frei für eine neue große Koalition. Und deshalb nahm Willi Winkler in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG schon mal "Abschied von einer traumhaften Zwischenzeit". Apokalyptikern und Krisen-Junkies hohnlachend, erklärte Winkler:
"Dass es eine Regierung brauche, weil das Land sonst im Chaos versinkt, ist eine alte Illusion, heute genährt durch Talkshows, in denen das Land verlässlich in den Abgrund taumelt, wenn nicht… – ja, wenn was nicht? Endlich ein starker Mann kommt? Eine noch stärkere Frau? Oder wenigstens Friedrich Merz? Wer an unumschränktes Regierungshandeln glaubt, muss auf einer fernen Insel der Seligen leben, hat noch nie von der Allmacht der Autoindustrie gehört, weiß nicht, dass Durchregieren heißt, Leoparden nach Incirlik zu schicken. Die gute Regierung lässt die Verwaltung die Arbeit machen und erweist sich damit als überflüssig."

Ohne Regierung für kurze Zeit frei

Zum Foppen aufgelegt: Willi Winkler in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG unter dem Titel "Ohne Regierung waren wir frei".
Von Jürgen Habermas erwartet man natürlich seriösere Töne. Und tatsächlich erklärte der Philosoph in der Wochenzeitung DIE ZEIT unter der gar nicht einmal unsinnlichen Überschrift "Europas zögerliche Liebhaber" in gewohntem Wort-Grau:
"Mindestens intuitiv spürt die Bevölkerung, dass dem Willen zur politischen Gestaltung so lange die Glaubwürdigkeit fehlt, wie unsere nationalen Regierungen keine Anstrengung unternehmen, in der ökonomisch zusammengewachsenen, aber politisch auseinanderdriftenden Weltgesellschaft, auch und vor allem gegenüber den Märkten einen Teil ihrer verlorenen politischen Handlungsfähigkeit durch Zusammenarbeit auf europäischer Ebene zurückzugewinnen."
Ein Satz, 442 Zeichen inklusive Leerzeichen, und das entscheidende Verb am Ende: Jürgen Habermas at its best – in der ZEIT.
Übrigens: Eine perfekte Paraphrase des Habermas-Artikels formulierte die ZEIT-Redaktion selbst – und zwar in der Unterzeile:
"Im reichen Deutschland wächst die soziale Ungerechtigkeit, doch nationale Reparaturarbeiten helfen allein nicht weiter. Warum die neue Bundesregierung das europäische Projekt vorantreiben muss und Sigmar Gabriel dafür der richtige Mann wäre."
Apropos soziale Ungerechtigkeit! Für ihre Entscheidung, vorläufig keine weiteren Einkaufsberechtigungen an Migranten auszugeben, haben die Essener Tafel und deren Leiter Jörg Sartor mächtig um die Ohren bekommen.

Von der Tafel über Hitler bis zu Pol Pot

In der Tageszeitung DIE WELT wiederum rechnete der Philosoph und Theologe Richard Schröder mit den Tafel-Kritikern ab. Vor allem empörte sich Schröder über die hier und dort aufgeworfene Frage, warum in einem so reichen Land wie Deutschland Menschen überhaupt um "ein Stück Brot betteln" müssten:
"Ich halte jene Pauschalkritik für völlig verfehlt (hob Schröder an). Soweit Gesetze das regeln können, muss niemand in Deutschland hungern oder um ein Stück Brot betteln. Wer anderes behauptet, ist unkundig oder bösartig. Und wer den deutschen Sozialstaat durch solche Schwarzmalerei kritisiert, sollte Folgendes bedenken: Die Verachtung des bestehenden Guten führt schnell auf die schiefe Ebene, die den Himmel auf Erden verspricht und die Hölle auf Erden installiert. Ich denke dabei an Hitler, Stalin, Mao und Pol Pot."
So der WELT-Autor Richard Schröder, dessen Übersprung von den Tafel-Kritikern zu Hitler und Pol Pot wir als intellektuellen Blackout werten.

Zahl der Tafelbedürftigen dramatisch in die Höhe gegangen

Jürgen Kaube knöpfte sich in der FRANKFURTER ALLGMEINEN ZEITUNG ebenfalls die Riege der Besserwisser vor und verteidigte Tafel-Chef Sartor – jedoch ohne Schaum vor dem Mund.
"Weshalb wird einem Menschen, der in gemeinnütziger Arbeit jahrelang bewiesen hat, kein sozialer Dummkopf und nicht herzlos zu sein, ohne weitere Prüfung unterstellt, er handele unsachgemäß und ‚nicht gut‘? Weshalb nimmt sich das ausgerechnet eine Politikerin heraus, deren Entscheidungen, vorsichtig formuliert, mit zu den Schwierigkeiten beigetragen haben, die es der Essener Tafel nicht mehr ermöglichen, unschuldig und jedem gerecht werdend soziale Hilfe zu leisten? Damit ist nicht nur die Einwanderungspolitik gemeint, sondern auch die Sozialpolitik. In den Regierungsjahren welcher Kanzler sind denn die Zahlen der Tafelbedürftigen dramatisch in die Höhe gegangen?"
Fragen von Jürgen Kaube. Die Sie uns vielleicht beantworten können, Frau Merkel! Bleiben wir bei gesellschaftlichen Problemen.

"Gewalt gegen Juden ausschließlich durch Muslime"

Im Gespräch mit der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG erklärte der Historiker Michael Wolffsohn, der ansteigende Antisemitismus sei wesentlich auf radikalisierte muslimische Minderheiten zurückzuführen.
Einwand NZZ: "Die deutsche Kriminalstatistik hat vergangenes Jahr knapp 1500 antisemitische Straftaten erfasst. 90 Prozent sollen Rechtsradikale verübt haben."
Entgegnung Wolffsohn: "Dieses Bild ist völlig verzerrt. Freundlich formuliert könnte man von Verschleierung sprechen."
Frage NZZ: "Und unfreundlich?"
Antwort Wolffsohn: "Es ist eine Lüge. Wenn ich mich in meinem jüdischen Bekanntenkreis umhöre, dann sagen alle das Gleiche: Gewalt gegen Juden geht ausschließlich von Muslimen aus."
Nicht wenige werden behaupten: Wolffsohn hat recht. Andere werden erwidern: Er strickt an einer Verschwörungstheorie.
Wir selbst enthalten uns der Stimme. Sehr schwieriger Fall!

Eine verkörperte Macke

Ach, ja! Am Anfang der Woche gab es viele Kommentare zu "Touch me not", dem Film von Adina Pintilie, der bei der diesjährigen Berlinale den Goldenen Bären gewonnen hat. Am unzufriedensten darüber zeigte sich der FAZ-Autor Andreas Kilb:
"‚Touch Me Not‘ ist ein schlagendes Beispiel dafür, wie man dem Kino die Erotik austreibt. Jeder in diesem Film ist nur ein Fall, eine Spielart des Sexuellen und seiner therapeutischen Bearbeitung, eine verkörperte Macke.‘"
Klingt echt abschreckend. Aber vielleicht haben Sie trotzdem Lust, liebe Hörer, an diesem Sonntag der Frage nachzugehen, die der NZZ eine Überschrift wert war:
"Macht Küssen wirklich Freude?"