Aus den Feuilletons

Eine Lyrikerin als Popstar

04:17 Minuten
Die Lyrikerin Amanda Gorman blickt in die Kamera und hat dabei die Hände gehoben.
Mit ihrem Gedicht beim Super Bowl bedankte sich die Lyrikerin Amanda Gorman für den Einsatz derer, die die Corona-Pandemie bekämpfen. © Picture Alliance / dpa / ZUMAPRESS.com / Climate Reality Project
Von Hans von Trotha · 08.02.2021
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Die Dichterin Amanda Gorman hat beim Super Bowl, dem wichtigsten US-amerikanischen Sportereignis, vor rund 100 Millionen Zuschauern ein Gedicht vorgetragen. Nie zuvor sei eine Autorin dermaßen wie ein Popstar behandelt worden, schreibt die "FAZ".
Der heimliche Feuilletonwettbewerb des Tages lautet: Umdeutung bekannter Slogans. Den Anfang macht Matthias Alexander in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG mit: "Trau vielen unter vierzig" aus Anlass der vierten Ausgabe des alle fünf Jahre ausgelobten Architektenwettbewerbs "max40".
Das resignierte Fazit neutralisiert die schöne Überschrift gleich wieder: "Es wäre ein Wunder, wenn die Ausstellung 'max40' im Jahr 2026 die Jugend auf dem Vormarsch sähe."

Wie stärkt man die Demokratie?

Die radikalste Umwertung hat die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG im Angebot. Aus Willy Brandts berühmtem "Mehr Demokratie wagen" macht Thomas Brussig: "Mehr Diktatur wagen" – in bester Absicht natürlich: als Ausnahme, um die Demokratie als Regel zu stärken. Brussig meint: "Einem Ausnahmezustand muss man mit Ausnahmeregeln beikommen."
"Ist 'Impotenz der Demokratie' ein eingeschriebener Makel, oder kann der Pandemiebekämpfer seinen Werkzeugkoffer auch in einer Demokratie auspacken? Nun", antwortet Brussig sich selbst, "der effektive Pandemiebekämpfer muss auf der Höhe der Forschung sein. Der demokratische Pandemiebekämpfer hingegen muss eine Mehrheit gewinnen, einen Konsens bilden und einen Kompromiss finden. Derlei ist der Wissenschaft fremd. Als Albert Einstein in der Frühzeit der Relativitätstheorie mit einem Buch 'Hundert Autoren gegen Einstein' konfrontiert wurde, soll er gesagt haben: 'Hätte ich unrecht, wäre einer genug.'"
Brussig weiß, wo das Wagnis seiner These liegt. "Dass ausgerechnet die Corona-Leugner eine 'Corona-Diktatur' heraufziehen sehen, sollte erst recht Grund sein, sie zu wollen. Die Demokratie sollte ihre Rituale und Umständlichkeiten nicht so wichtig nehmen, ihrer Legitimität zuliebe."

Amanda Gorman beim Superbowl

Die nächste Umwertung betreibt, auch in der SZ, Jörg Häntzschel: "Wir sind Helden" zitiert er groß. Es geht um den Auftritt von Amanda Gorman, die bei Joe Bidens Inauguration ein Gedicht vorgetragen hat, beim Superbowl, wobei sie derer gedachte, die die Pandemie bekämpfen. Den Auftritt könne man "flach und pathetisch finden. Aber", fragt Häntzschel, "was haben wir im Vergleich in diesen Zeiten im Angebot?"
Außerdem meint er: "Dass die NFL nun also mitten in der Pandemie, mitten in einer Zeit der politischen Spaltung des Landes, und inmitten einer Krise des American Footballs, Amanda Gorman einlädt, die wiederum in einem Gedicht vor einem Publikum von 100 Millionen Menschen drei gewöhnliche Amerikaner preist, zwei Schwarze, eine Weiße, alle drei in Sozialberufen, dann fragt sich, ob diese Lyrik, dieses Selbstverständnis einer Lyrikerin nicht viel mutiger, lebendiger und interessanter ist, als das, was in Europa für gut und akzeptabel gehalten wird."
Sandra Kegel kommentiert in der FAZ: "Was den amerikanischen Sport von anderen unterscheidet, ist die Flughöhe. In irre Höhen hat es am Sonntag die zweiundzwanzigjährige Amanda Gorman katapultiert. Nie zuvor wurde einer Autorin oder einem Autor zuteil, was sonst Popstars wie Madonna, Justin Timberlake oder Lady Gaga vorbehalten ist. Mehr Publikum hat ein einfaches Dankeschön selten erreicht."

Deutung von Popsongs

A apropos Popstars: In der Umwertungsüberbietung hat die FAZ noch ein knackiges "Ich weiß, was soll es bedeuten" zu bieten. Cornelius Dieckmann feiert unter dieser Überschrift die Plattform Genius, auf der Musiker ihre Texte kommentieren, als "einflussreiches Werkzeug zur Deutung von Popsongs", als "wunderbare Feier des Metatexts und Ausdruck eines virtuellen Horror vacui" und schließlich gar als "Menschheit, kommentierte Fassung".
Zitiert wird Phoebe Bridgers, die über Genius sagt: "Es ist cool zu sehen, wie Leute meine Lyrics auseinandernehmen, als sei es fucking Shakespeare."
Klingt ein bisschen wie das, was wir hier in der Kulturpresseschau mit den Feuilletontexten versuchen. "Manchmal", so Phoebe Bridgers, "verstehen sie Dinge falsch, manchmal lassen sie mich aber auch klüger aussehen, als ich bin." Eben.
"Wie viel Philologie ist nützlich, wenn’s doch nur Rock 'n' Roll ist oder Rap?", fragt Dieckmann. Na, immer alle Philologie der Welt, kann man da nur antworten – ob Rock 'n' Roll, Rap oder Feuilleton.
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